Begegnungen Januar (German Edition)
Prolog
Silvester
Das Papier fest in ihrer Tasche stieg sie die dreizehn
Stufen zu Henriks Wohnung hinauf. Immer wieder tastete sie
danach, das gefaltete Schriftstück gab ihr ein Gefühl von
Sicherheit. Es war gut zu wissen, dass es da war.
Sie klopfte an seine Tür, so leise dass es seine Eltern
nicht aufwecken würde. Seit jeher hielten die an diesem Tag
und um diese Zeit ihr Powernickerchen, sonst würden sie es
des Nachts nicht bis zur Stunde Null schaffen.
Hinter der Tür klapperte es, dann öffnete sich die Tür.
Henrik stand dort, mit nassem Haar und sorgfältig in seinen
Bademantel gewickelt, den sie ihm vor drei Jahren zu
Weihnachten geschenkt hatte. Ihr Herz machte einen kleinen
Sprung. Es war schön zu wissen, dass sich einige Dinge nie
ändern würden.
Henrik beachtete sie kaum.
„Komm rein, hier ziehts!“
Hurtig schlüpfte sie nach ihm durch die Tür. Sie würde auf
den richtigen Moment warten, es ihm zu sagen. Auf einen...
romantischeren Moment.
„Hast du schon gegessen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Keinen Hunger.“
Er runzelte seine Stirn.
„Iss was! Sonst räumst du nachher noch das ganze Buffet
leer.“
Es war ihr peinlich, dass er sie wieder und wieder daran
erinnern musste. Sie trank keinen Alkohol. Und wenn ihr auf
einer Party langweilig wurde, weil Henrik sie zu vergessen
schien, wenn er sich mit seinen Kumpels betrank, dann aß sie
eben. Dieser Umstand, zusammen mit der Tatsache, dass sie
den Körper einer Primaballerina besaß, hatte seit jeher für
lautstarke Erheiterung bei seinen Freunden gesorgt.
„Also?“
Ungeduldig wippte er von einem Bein aufs andere. Zu seiner
Beruhigung biss sie in ein Brötchen, das da einsam und
allein auf der Küchentheke lag und seiner Konsistenz nach zu
urteilen, schon einige Tage auf seine Erlösung wartete.
„Zufrieden?“
Er zuckte nur mit den Schultern und drehte dann ab ins Bad,
wo er die nächsten dreißig Minuten mit seinem Haar zu
schaffen haben würde.
Sie folgte ihm. Es langweilte sie nicht im Mindesten, ihn
bei seinem Ritual zu beobachten. Er war ein gutaussehender
Mann und er wusste es. Angesehen zu werden kam nun einmal
mit dem Territorium.
„Wolltest du was?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Micha hat ne neue Freundin, wusstest du das?“
„Ich hab so was gehört.“
Nicht jeder konnte eine so lange und stabile Beziehung
führen wie sie beide. Das erfüllte sie mit Stolz und ein
bisschen Mitleid für Henriks Freund Micha, der von einer zur
anderen ging.
„Also was? Du starrst ja immer noch, als gäbe es kein
Morgen.“
„Ich schau dich halt gerne an.“
Er zog die Augenbrauen hoch.
„Willst du mir schnell einen Blasen?“
Sie errötete. Musste er immer so direkt sein? Er wusste
genau, dass es ihr kein besonderes Vergnügen bereitete, DAS
zu tun. Aber er wurde einfach nicht müde, es ihr anzubieten.
Er hatte wohl nicht wirklich erwartet, dass sie Ja sagen
würde und zuckte mit den Schultern.
„Dann eben nicht. Für mehr haben wir keine Zeit, ich mach
meine Haare heute nicht noch einmal.“
Es war lange her, dass ihm seine Haare weniger wichtig
gewesen wären, als Sex. Aber das war doch normal nach acht
Jahren, oder? Wichtig war und blieb, dass sie sich liebten,
dass sie eines Tages heiraten und Kinder kriegen würden und
neben dem Haus seiner Eltern eine eigene kleine Behausung
bauen würden. Und der erste Schritt dazu steckte in ihrer
Tasche.
„Henrik?“
„Was?“
„Weißt du, wie wir immer davon geredet haben... ähm... dass
wir was erleben wollen?“
Er verstand nicht.
„Was erleben?“
„Du weißt schon, verreisen, mal in einer großen Stadt
wohnen, viel Geld verdienen, etwas Neues eben?“
„Ja und? Das ist lange her, davon spricht man halt, wenn man
jung und dumm ist. Es ist doch ok, so wie es ist, oder?“
Argwöhnisch beäugte er sie. Sie lächelte ihn an.
„Ja es ist schön. Aber...“
Das war der Moment. Raus damit!
Sie zog das verknitterte Papier aus ihrer Tasche und hielt
es ihm wortlos hin.
„Was ist das?“
„Lies es!“
Das tat er. Erst einmal, dann ein zweites Mal. Die Furche
zwischen seinen Brauen wurde tiefer.
„Berlin?“
Sie nickte enthusiastisch.
„Berlin! Sie wollen mich als Fotografin. Ok, eigentlich als
Assistentin, aber trotzdem!“
Henrik raufte sich die Haare. Vergessen war die ganze
Liebesmüh, die er damit gehabt hatte.
„Du willst nach Berlin?“
„WIR wollen nach Berlin. Oder? Es wäre etwas Neues, etwas
Aufregendes. Und ich wette, du könntest
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