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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schüchtern wie vor dem Kuss.
    »Für einen Anfänger war das doch nicht schlecht, oder?«
    Sie strich ihm lächelnd über die Wange. »Es war sogar sehr gut, Tim. Ich bin gespannt, was du noch so alles kannst.«
    Am nächsten Morgen entdeckte die Leiterin des privaten Waisenhauses »Ashland Orphanage« in ihrem Garten einen Haufen Gold und Silber. Einige Kinder behaupteten, sie hätten in der Nacht ein übernatürliches Glühen im Wald gesehen. Der Schatz müsse das Geschenk einer Fee sein. Weil Geldmittel in ihrem Haus immer knapp waren, kam die Heimmutter zu dem Schluss, dass die Erklärung der Kinder die beste sei, die es geben könne, und entschloss sich dazu, ihre Schutzbefohlenen zukünftig besser denn je auf das Leben jenseits der Märchen vorzubereiten. Das Gold und Silber, dachte sie, werde ihr dabei sehr nützlich sein.

    Jamila Jason hatte wie angekündigt ihren Dienst bei der National Security Agency quittiert. Der Tod ihres Vorgesetzten – und der von Justin Flock – war aufgeklärt, ihre Notwehr amtlich bestätigt. Es kam nie zu einer Anklage. Nachdem erst die Dimensionen des Verrats von Tadeusz Reshevsky – alias Iwan Gomlek alias Emil W. Kogan – bekannt geworden waren und alle Beweise auf dem Tisch lagen, hätte man ihr alles geglaubt. Die ganze Zeit über blieb Tim an ihrer Seite, und sie fochten die Angelegenheit gemeinsam durch.
    Im Januar des darauffolgenden Jahres waren die beiden in die Karibik gezogen. Nachdem Tim keine Schuldgefühle gegenüber den toten Eltern mehr plagten, hatte er wieder seinen Geburtsnamen angenommen. Wenig später heiratete das Paar unter Palmen.
    Nach Baltimore flogen sie trotzdem weiterhin regelmäßig, denn dort residierte die von ihnen ins Leben gerufene Rosewood-Stiftung. Das angeschlossene Institut war unabhängig von wirtschaftlichen Interessen und wurde bald zu einem weltweit anerkannten Zentrum für die Erforschung und Entwicklung von Methoden zum Schutz gegen Bespitzelung und Ausbeutung im Internet.

    Nur einen Tag nach dem wundersamen Gold- und Silberregen im Ashland-Waisenhaus hatte die Washington Post die wahre Story der Beale-Chiffren veröffentlicht. Binnen vierundzwanzig Stunden verbreitete sich die Nachricht bis in die entferntesten Winkel der Erde. Allmählich begann sich die Weltwirtschaft von den Turbulenzen zu erholen, die als »Beale-Krise« in die Geschichte eingingen.
    Um das heraufbeschworene Gespenst endgültig zu verjagen, fand aus diesem Anlass in New York eine Feierstunde statt.
    Der amerikanische Präsident war da, der britische Premier war gekommen, und das Ehepaar Rosenholz gehörte ebenfalls zu den handverlesenen Gästen.
    Für einen stimmungsvollen Rahmen sorgte die weltberühmte Pianistin Sarah d’Albis mit einem kurzen, aber grandiosen Konzert, das alle Besucher wahrhaft verzauberte. Als der letzte Akkord und der tosende Applaus verklungen waren, beugte sich Tim zu seiner im Abendkleid atemberaubend schönen Frau und erklärte, die D’Albis sei als Mensch, der Musik buchstäblich sehen könne, eine außergewöhnlich begabte Person und, wie man höre, überaus klug.

    Jamila strich ihm über die Wange, wie sie es jetzt häufiger tat. »Für mich bist du der klügste Mensch der Welt, Liebling. Niemand weiß so viel wie du.«
    Er lächelte verlegen. »Wenn alles Wissen des Universums an den Stränden unserer Ozeane läge, dann besäße ich nur ein Sandkorn davon. Doch in diesem Körnchen bist du, und mehr brauche ich nicht.«
    »Das hast du schön gesagt.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und einen kleinen, doch innigen Kuss. Dann deutete sie auf die Politiker und Honoratioren in der ersten Reihe. »Ob sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen werden und aus dieser Geschichte eine Lehre ziehen?«
    Tim nahm ihre Hand und drückte sie sanft an seine Lippen.
    »Vielleicht noch nicht dieses Mal. Aber irgendwann.«

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