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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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seine Beine über den Rand hingen.
    »Und matt«, sagte hinter Tim eine Stimme, die nur die eines Schutzengels sein konnte. Er riss die Augen auf und wirbelte herum.
    »Jamila! Du lebst!«
    Während sie auf ihn zulief, langte sie sich in den Rücken und verzog das Gesicht. »Ich habe einen guten Schneider in Bogota. Die schicke schwarze Lederjacke ist eine kleine Vorsichtsmaßnahme, die eigentlich für Justin gedacht war.«
    »Eine Sekunde später, und mein Schneider hätte sich blamiert.«
    »Tut mir leid. Die Durchschlagskraft von Emils Magnum hatte mich kurz außer Gefecht gesetzt. Und bis ich dann meine Waffe wiedergefunden hatte…«
    Tim wandte sich zu Kogans Leiche um und murmelte: »›Der König würdevoll, bedächtig, zwar wichtig, doch nicht immer mächtig.‹ Ich weiß nicht, von wem dieses Schachzitat stammt, aber eben ist es wie Leuchtreklame in meinem Kopf aufgeflammt. Gomlek hat meine Eltern ermordet und deinen Freund und obendrein dich dazu manipuliert, deinen Stiefbruder zu töten. Ganz abgesehen von den vielen anderen Leichen, die seinen Weg pflastern. Ich denke, er hat bekommen, was er verdient.«
    Jamila steckte ihre Waffe in das Holster. Mit glasigen Augen betrachtete sie den brennenden Tiegel. »Meine Mutter hat mir oft aus dem Koran vorgelesen. In Al-Máedah, der 5. Sure, steht, dass ›jeder, der einen Menschen tötet – es sei denn als Vergeltung für Mord oder Unheilstiftung auf Erden – gleichsam die ganze Menschheit tötet; und wer einem, den der Tod bedroht, zum Leben verhilft, der hat gleichsam der gesamten Menschheit zum Leben verholfen.‹ Ich… Ich hatte vor Justin noch nie jemanden getötet…« Ehe sich Tim versah, lag Jamila in seinen Armen und schluchzte: »Und ich will es auch nie wieder tun. Nachdem ich die Sache geregelt habe, quittiere ich meinen Dienst bei der NSA.«
    Ihn durchflutete ein Gefühl der Wärme, das selbst die Gegenwart des Toten in der Grube erträglicher machte.
    Zärtlich strich er über ihr seidiges Haar und sagte sanft: »Jetzt wird alles gut, Liebes. Die Partie ist endgültig vorbei.«
      
      
      

PHASE VII

MATT

    Gegenwart
      

    »Es ist im Leben wie im Schachspiel.
    Wir entwerfen einen Plan, dieser bleibt jedoch bedingt durch  
    das, was im Schachspiel dem Gegner,
    im Leben dem Schicksal zu tun belieben wird.«

    Arthur Schopenhauer
      

    Die Nacht im Wald beim Ashland-Waisenhaus wurde für Tim und Jamila noch lang und nass. Die Gewitterwolken entluden mit Donner und Blitz fast eine Stunde lang ihre feuchte Fracht über dem Schauplatz des dramatischen Geschehens. Das durch den Schlamm watende Paar hatte zwar einstimmig und ziemlich schnell über die Verwendung von Beales Schatz entschieden, nur die Ausführung gestaltete sich schwieriger als erwartet. Die beiden schufteten fast bis zum Morgengrauen.
    Während der Plackerei wurde Tim bewusst, dass trotz des alles in allem guten Ausgangs einer mehr als unguten Episode seines Lebens noch manches im Ungewissen lag. Endlich hatte er einen Menschen gefunden, dem er nahe sein konnte, ohne in Panik zu geraten. Wer einmal solches Glück gefunden hat, der sollte es nicht wieder loslassen, sagte er sich. Als sie restlos verschlammt, doch endlich zur Abfahrt bereit waren und Jamila die Tür des Jeeps öffnete, um sich hinters Lenkrad zu setzen, zog er sie unvermittelt an sich.
    »Was wird jetzt aus uns?«, fragte er bang.
    Sie ließ ihn einen Moment ihre Wärme spüren, bevor sie ihren Oberkörper zurückbeugte. Allein das Licht aus dem Innern des Fahrzeugs genügte, um ihre Augen wie grüne Sterne glühen zu lassen. »Das hängt davon ab, wie lange du mich in deiner Nähe ertragen kannst.«
    Was hätte sie Schöneres antworten können! Selig drückte er sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Könntest du es denn ertragen, wenn ich dich noch einmal küsse?«
    »Käme auf einen Versuch an«, erwiderte sie leise.
    Also stürzte sich Tim in den Abgrund ihrer Augen. Es war ein mutiger Sprung, der ihm wie nie zuvor das Gefühl vermittelte, ein Mann zu sein. Doch das Trudeln in diese Tiefe war kurz. Als er die warmen, weichen Lippen auf den seinen spürte, wollte er überhaupt nichts mehr sehen. Seine Lider senkten sich, und er genoss für eine kleine Ewigkeit des Schwebens das unbeschreibliche Gefühl, eins zu sein mit einem anderen Menschen.
    Eine gewisse Zeit später, die beiden Gesichter waren jetzt wieder eine Handbreit oder auch zwei voneinander entfernt, fühlte er sich so unbeholfen und

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