Der Mann, der niemals lebte
überlegten sie alle gemeinsam, welche Art von Musik sie ihm draufladen sollten, bis Azhar schließlich auf die glänzende Idee kam, stattdessen einen Arabischkurs auf den MP 3 -Player zu spielen. Wer auch immer die Leiche fand, würde unendlich viel Zeit damit verbringen, die vermeintlichen Geheimbotschaften in den Lektionen zu entschlüsseln, und schließlich zu der Erkenntnis gelangen, dass es sich doch bloß um Übungssätze zum Arabischlernen handelte. Außerdem war ein Sprachkurs genau das, was ein ehrgeiziger Agent, der in jeder freien Minute an der Verbesserung seiner Fähigkeiten arbeitete, mit auf einen Auslandseinsatz nahm. So gewissenhaft. So penetrant amerikanisch. Zum Ausgleich steckte Hoffman dem Toten noch eine abgerissene Eintrittskarte für ein Spiel der Washington Redskins aus der letzten Playoff-Serie in die Innentasche seines Jacketts.
Das Wichtigste allerdings würde der Tote erst später bekommen: die Dokumente, die Harry Meeker angeblich seinem Kontaktmann bei der al-Qaida bringen sollte, sowie die Fotos und ausgedruckten Botschaften. All das würde wie eine Bombe hochgehen, wenn es in der Hierarchie des Netzwerks zu den richtigen Leuten gelangte. Schließlich war es Beweis dafür, dass eine wichtige Zelle des Organismus ins feindliche Lager übergelaufen war und Verrat begangen hatte. Der angebliche Harry Meeker war nichts weiter ab eine Giftpille, die so glaubwürdig und verlockend verpackt war, dass der Gegner einfach danach greifen musste. Wenn sie ihre Wirkung entfaltete, würde sie jeden Nerv und jedes Blutgefäß im Körper des Gegners zerstören. Aber dazu musste er sie erst einmal schlucken.
Berlin
Vier Tage nachdem die Autobombe in Mailand hochgegangen war, reiste Roger Ferris mit Hani Salaam, dem Chef des jordanischen Geheimdienstes, nach Berlin. Der Nachrichtenverkehr im CIA-Büro in Amman hatte die Ausmaße eines digitalen Blizzards angenommen, in den oberen Etagen schrien sie lauthals nach irgendwelchen brauchbaren Informationen über die Bombenleger von Mailand, die der Direktor dem Präsidenten präsentieren konnte. Aber im Hauptquartier schrie man ständig nach irgendetwas, und Ferris erschien die Reise mit Hani im Augenblick wichtiger. Wie sich herausstellte, sollte er damit ganz recht behalten.
Ferris hatte schon viele Geschichten über die Großtaten des jordanischen Geheimdienstes gehört. Bei der CIA hießen die Jordanier nur «die Herzen» , einerseits natürlich wegen ihres Kryptonyms, QM HEART, andererseits aber auch, weil sie ihre Operationen immer recht beherzt angingen. Bis zu seiner Berlinreise hatte Ferris die Herzen allerdings noch nie in Aktion erlebt. Die Sache an sich war nicht besonders aufregend. Die Planungen und Vorbereitungen hatten zwar Monate in Anspruch genommen, aber als die Operation schließlich zur Durchführung kam, war sie ein Kinderspiel. Ferris machte sich dabei keine Gedanken über die komplexen Zusammenhänge außerhalb seines Blickfelds: Das Labyrinth war so perfekt konstruiert, dass man gar nicht auf die Idee kam zu fragen, ob es nicht vielleicht Teil eines größeren Labyrinths sein könnte. Und der Ausgang war so leicht zu finden, dass man nicht lange überlegte, ob er nicht vielleicht ein Eingang zu etwas anderem war.
Sie waren auf dem Weg in einen der Außenbezirke Ostberlins, der sich nie richtig davon erholt hatte, dass er 1945 von der Roten Armee niedergewalzt worden war. Während eine bleiche Oktobersonne dem wolkigen Himmel einen leicht metallischen Glanz verlieh, war das Stadtviertel darunter ein erdiges, mattes Braun: hellbrauner Putz an den Häuserwänden, ölig schillernde Pfützen aus bräunlichem Wasser in den Schlaglöchern der Straßen. Selbst der stumpf gewordene Lack eines klapprigen Trabbis am Straßenrand hatte eine unbestimmte, schlammbraune Farbe. Am anderen Ende der Straße spielten ein paar türkische Jungs Fußball, man hörte den Verkehrslärm von der einen Block entfernten Hauptstraße. Sonst war alles still. Vor ihnen lagen die trostlosen Wohnblocks, die vor Jahrzehnten für die Arbeiter der nahe gelegenen Fabrik gebaut worden waren. Inzwischen waren sie so heruntergekommen, dass nur noch Aussiedler und Hausbesetzer darin wohnten und ein paar alte Leute, die schon zu senil oder zu demoralisiert waren, um noch wegzuziehen. Aus den wenigen offenen Fenstern roch es nicht nach Kohl oder Schnitzel, sondern nach Knoblauch und billigem Olivenöl.
Ferris war knapp eins achtzig groß, hatte widerspenstiges
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