Historical Weihnachtsband 1991
1. KAPITEL
London, Winter 1860
Ein verstohlener Blick auf die Uhr über dem Kaminsims verriet Angelica Hamilton, daß sie wieder einmal mit Verspätung im Hause ihrer Schwester eintreffen würde.
Nicht daß zu besonderer Pünktlichkeit Anlaß gewesen wäre. Trotzdem würde Phoebe Angelica necken, und beider Mutter pflegte dann einen anklagenden Blick nach oben zu senden.
Miss Ida Lunt, das ältliche Fräulein, das Angelica bis jetzt aufgehalten hatte, drückte das Taschentuch gegen die Raubvogelnase und bemerkte mit belegter Stimme:
„Dieses gräßliche Wetter macht mir zu schaffen. Seit Anfang November ist die Temperatur nicht mehr über den Gefrierpunkt gestiegen, und nun haben wir fast schon Weihnachten."
„Es ist das kälteste Jahr, an das ich mich erinnern kann", pflichtete Angelica ihr bei.
„Was nun dieses Zimmer angeht, das ich Ihnen vermieten könnte . . ."
Bekümmert schüttelte Miss Lunt den Kopf. „Allzu viele Winter können Sie freilich in Ihren Jahren noch nicht gesehen haben. Warten Sie bloß, bis Sie in mein Alter gekommen sind. Als ich auf dem Weg hierher über London Bridge ging, dachte ich mir, wieviel früher als sonst die Themse doch heuer zugefroren ist. Das macht gewiß manchen Flußschiffer lange Zeit brotlos." Sie rieb die Fingerknöchel der behandschuhten Linken und setzte mit Grabesstimme hinzu: „Sie können sich nicht vorstellen, was diese Kälte für meine rheumatischen Schmerzen bedeutet und für meine armen Bronchien."
„Ich könnte eine der Damen Neville bitten, Ihnen noch eine Tasse Tee zu bereiten.
Aber das Zimmer ..."
„Keinen Tee mehr für mich, Mrs. Hamilton. Haben Sie vielen Dank. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen."
„Ich hoffe, daß Sie meine anderen Mieter auch so umgänglich finden", sagte Angelica. „Die Schwestern Neville haben Sie ja bereits kennengelernt. Die beiden Herren wohnen nach vorne hinaus. Wie erwähnt, kann man von dem Zimmer, das ich Ihnen gezeigt habe, auf den Garten hinter dem Haus schauen. Im Frühling ist es dort sehr hübsch."
„Frühling", seufzte Miss Lunt. „Der Frühling ist für mich das, was das Paradies für den Sünder sein mag."
Angelica wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte. Außerdem wollte sie nicht noch länger vom eigentlichen Thema dieser Unterredung abschweifen, da die Zeit ohnehin schnell verging. „Wenn Ihnen die Miete etwa zu hoch ist, könnte ich . . ."
„Nein, nein, die Miete ist annehmbar, wirklich annehmbar. Ja, ja, ich werde das Zimmer nehmen."
Angelica gab sich alle Mühe, nicht zu zeigen, wie erleichtert sie war. Nicht nur, weil diese Frau zu guter Letzt einen Entschluß gefaßt hatte, sondern weil das Zimmer endlich vermietet war. Es hatte zwei Wochen lang leergestanden, und Angelica brauchte das Geld dringend, um das Haus halten zu können. Selbst wenn alle Räume vermietet waren, konnte sie mit dem Geld keine großen Sprünge machen.
Das Haus war riesig und war um die Jahrhundertwende von den Großeltern von Angelicas verstorbenem Ehemann gebaut worden. Seit Philips Tod machte sich an dem Gebäude mehr und mehr das Alter bemerkbar. Es zeigten sich die ersten Spuren eines uneingestandenen Verfalls. Auch die Gärten waren längst nicht mehr so gepflegt wie früher, und die Fensterläden hätten einen frischen Anstrich vertragen können.
Mr. Hart, der älteste Mieter, wohnte in dem schönsten Zimmer, in dem mit Blick auf die Straße. Ursprünglich war es das Wohnzimmer des Ehepaares Hamilton gewesen.
Der zweite männliche
Mitbewohner, Quinton Keyes, hatte das große Zimmer an der Vorderseite im ersten Stock gemietet. Den Raum, der gegenüber auf den Garten hinausging, hatten die Schwestern Neville belegt. Miss Lunts Behausung wäre die daneben, und dann kam Angelicas eigenes Reich.
Die Kaminuhr schlug die halbe Stunde. Aus schierer Wohlerzogenheit schaute Angelica nicht hin. Immerhin war sie bereits eine ganze Stunde zu spät.
„Ich nehme an, daß ich gleich einziehen kann", sagte eben Miss Lunt. „Es liegt Schnee in der Luft, und ich bin sicher, ich würde mir eine Lungenentzündung holen, wenn ich noch lange draußen wäre."
„Natürlich können Sie das." Angelica nahm zwei Schlüssel vom Kaminsims und händigte sie Miss Lunt aus. „Der größere ist für Ihr Zimmer. Die meisten von uns machen sich nicht die Mühe abzuschließen, doch die Möglichkeit ist gegeben, wenn Sie das lieber möchten."
„Und ob ich das möchte! Eine alleinstehende Frau kann nicht vorsichtig
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