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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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wie sie strahlte. Sie war noch ein wenig blass, doch die Ängste und Strapazen der vergangenen Tage waren ihr kaum noch anzusehen. Lange weiße Glacéhandschuhe verbargen den Schnitt an ihrem Unterarm. Sie warf Tom und Sid einen fröhlichen Blick zu, dann nahm sie auf der kleinen Bank vor dem Altar Platz, und ihr Vater ging zu seiner Bank in der ersten Reihe.
    Sid beugte sich zu Tom und raunte ihm ins Ohr: »Wenn du sie auch nur einen Tag unglücklich machst, schieß ich dir auch noch in die andere Schulter.«
    Tom beugte sich zu Sid und raunte zurück: »Halt die Klappe, oder ich sperr dich wieder in ihren Besenschrank.«
    »Du bist ein gemeiner Taugenichts, Tom.«
    »Und du ein erbärmlicher Idiot.«
    Sid grinste, als eine Stimme hinter ihnen sie zusammenzucken ließ. »Ihr haltet jetzt beide die Klappe, und du gehst nach vorn und heiratest jetzt diese Frau, Tom Sawyer, sonst bring ich hier zu Ende, was ich im Schlachthof angefangen habe.«
    Tom blickte über die Schulter zu Huck, der in der Bank hinter ihnen saß, sich mit dem Daumen quer über die Kehle fuhr und dabei grinste. Der Anzug, den Huck trug, war zwar ausgebeult, fadenscheinig und verwaschen, aber er wirkte dennoch so falsch an seinem Freund, als hätte ein viel zu großes Insekt einen merkwürdigen Kokon um ihn gesponnen.
    Tom erhob sich, trat zum Altar und setzte sich genau in dem Moment neben Becky, als die Orgel aufhörte zu spielen und Pfarrer Sprague die Arme zur Decke erhob.
    »Die Heilige Schrift sagt uns: ›Wer liebt, ist geduldig und gütig. Wer liebt, der ereifert sich nicht, er prahlt nicht und spielt sich nicht auf. Wer liebt, der verhält sich nicht taktlos, er sucht nicht den eigenen Vorteil und lässt sich nicht zum Zorn erregen. Wer liebt, trägt keinem etwas nach; es freut ihn nicht, wenn einer Fehler macht, sondern wenn er das Rechte tut. Wer liebt, der gibt niemals jemanden auf, in allem vertraut er und hofft er für ihn; alles erträgt er mit Geduld.‹«
    Tom musste über den sorgsam gewählten Bibelvers des Pfarrers lächeln. Ihm war, als hätte einer der alten Propheten das vor unendlich langer Zeit nur für ihn und für Becky geschrieben. Und auch für ihn und für Polly und irgendwie auch für Sid. Und vielleicht auch für den großen Mann, der sein Land so geliebt hatte und den Tom nicht hatte beschützen können.
    Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.
    Hatte er das geschafft? Vielleicht. Und morgen? Und die Tage danach? Würde es ihm auch weiterhin gelingen? Tom wusste es nicht, aber plötzlich breitete sich ein tiefes Gefühl von Frieden in seiner Brust aus, und es kam ihm vor, als fiele eine schwere Decke, die auf seinen Schultern gelegen hatte, von ihm ab.
    Er sah zu Becky, und sie spürte seinen Blick. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und es war so voller Kraft und Liebe, dass Tom einmal mehr wusste, dass er das Richtige tat. Sie griff nach seiner Hand, als dürfte man ihn nicht einen Moment lang loslassen.
    Sprague lächelte gütig und ließ den Blick über die Köpfe seiner Gemeinde schweifen. »Wir sind heute hier zusammengekommen, weil zwei Menschen vor Gott den heiligen Bund der Ehe schließen wollen. Rebecca Thatcher, Thomas Sawyer, erhebt euch, und tretet vor.«
    Becky stand auf, als sie merkte, wie Toms Hand schlaff in der ihren hing.
    Er war nicht aufgestanden, saß immer noch auf der Bank. Das Kinn war ihm auf die Brust gesunken, und er atmete tief und regelmäßig.
    Becky blinzelte und sah ratlos zu Pfarrer Sprague.
    Tom war eingeschlafen.

Nachwort
    Achtung! Das Nachwort verrät Wendungen des Romans!
    Sakrileg! Blasphemie!
    Wie kann jemand es wagen, Mark Twains Tom Sawyer weiterzuschreiben? Anmaßend? Klarer Fall von Selbstüberschätzung?
    Genau diese Fragen habe ich mir auch gestellt, als mir die Idee zu Der Mann, der niemals schlief zum ersten Mal in den Sinn kam. Natürlich ist das anmaßend, natürlich ist das eine Steilvorlage für jeden, der dieses Experiment von vornherein als gescheitert betrachten und diesen Roman verdammen möchte. Aber zu meiner Verteidigung habe ich einen sehr prominenten Fürsprecher.
    Mark Twain selbst schrieb im Nachwort zu Tom Sawyers Abenteuer : »Eines Tages mag es sich lohnen, die Geschichte der Jüngeren wieder aufzugreifen und zu sehen, was für Männer und Frauen sie geworden sind.«
    Wer würde dem großen Meister widersprechen wollen?
    Im selben Nachwort schrieb er außerdem: »Wer einen Roman über Erwachsene schreibt, der weiß genau, wo er aufhören

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