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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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fassungslos von der Loge zum Seitenvorhang. Tom spähte am Vorhang vorbei und erblickte die Tür nach draußen. Sie stand offen. Das Gaslicht warf einen fahlgelben Schein auf die schmutzige Gasse hinter dem Ford’s Theatre. Tom stieg über die Balustrade und sprang auf die Bühne hinab.
    Dieser Mann darf nicht entkommen.
    Oh nein, Sir. Das wird er nicht.

Auf dem Mississippi,
am Morgen des 10. Juli 1865
    »Geht es Ihnen gut, Sir?«
    Tom lehnte an der schneeweißen Reling und starrte auf die schlammigen Wassermassen, die unter ihm dahinzogen wie brauner Nebel. Wegen der schmutzigen Färbung nannten die Leute den Fluss, an dessen Ufer er groß geworden war, auch »Big Muddy«.
    Tom blickte zu den steilen Felsen auf der Seite von Missouri. Hinter ihm, nach Backbord, lagen die bewaldeten Ufer von Illinois. Schildkröten sonnten sich auf entwurzelten Baumstämmen im Mississippi.
    »Alles klar bei Ihnen, Mister?«, erkundigte sich der Lotse der Excelsior erneut. Er warf Tom über die randlose Brille einen prüfenden Blick zu, während er gegen seinen ungepflegten Schnurrbart pustete. Graue Locken hingen dem Mann in die Stirn. Seine Weste spannte über dem Bauch.
    Tom nickte. »Alles klar. Bin nur etwas müde. Die Nacht war kurz.«
    Der Lotse grinste. »Oh, die Nächte in Keokuk haben’s in sich, was? Und die Ladys in den Saloons lassen einen nicht zur Ruhe kommen, wie?« Er lachte meckernd.
    Tom antwortete nur mit einem schmalen Lächeln.
    Der Lotse kam näher. »Mein Bruder Orion wohnt in Keokuk; ich weiß, wovon ich rede, Mister. Haben Sie das Schlitzauge im »Golden Goose« gesehen, der für einen Vierteldollar eine Nudelsuppe durch die Nase schlürft? Haben Sie?« Wieder lachte er meckernd.
    Als er merkte, dass Tom ihm kaum zuhörte, folgte er Toms Blick zum Ufer und senkte verschwörerisch die Stimme. »Sie sehen sich das Mistding an, hm?«
    Tom blickte den Lotsen verständnislos an.
    Der ältere Mann deutete auf eine Rauchsäule hinter den Bäumen am Ufer. »Die Eisenbahn. Macht uns Schiffern das Leben schwer. Einfach zu schnell für uns, und heutzutage hat’s ja jeder so verflucht eilig. Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine verdammt armselige Art zu reisen, meinen Sie nicht?«
    Tom nickte träge.
    Der Lotse klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich muss dann mal wieder. Diese verdammten Untiefen hier lassen einen Mann nicht zur Ruhe kommen. Aber Sie haben noch eine Stunde, bis wir in St. Petersburg sind. Und ich kann Sie beruhigen: Verglichen mit Keokuk ist das wirklich ein verschlafenes Nest. Bis dahin können Sie sich ausruhen, hauen Sie sich aufs Ohr! Sie werden die alte Lady schon hören, wenn wir da sind.« Grinsend deutete er auf die große Glocke, die vor dem verglasten Steuerhaus am Texasdeck hing, und machte sich auf zum Bug des Dampfschiffes.
    Von irgendwoher zog der Duft von Bratkartoffeln in Toms Nase, und er hörte das Lachen aus dem Saloon, wo ein Ministrel-Sänger mit schwarz geschminktem Gesicht seine Version von Jumping Jim Crow, dem hinkenden Stallburschen, zum Besten gab. Die Nummer war lahm, Tom hatte sie schon zweimal gesehen. Er schüttelte sich. Seine Lider waren bleischwer, und seine Finger fühlten sich taub an.
    Hauen Sie sich aufs Ohr.
    Tom schnaubte. Wann hatte er das letzte Mal richtig geschlafen? Im Ford’s Theatre in Washington? An jenem Karfreitag? Sicher, es gab jede Nacht ein oder zwei Stunden, in denen sein Geist wegdriftete. Aber die Regel waren durchwachte Nächte in schweißnassen Laken.
    We never sleep – Wir schlafen nie.
    Das war Pinkertons Motto gewesen. Der Wahlspruch von Toms ehemaligem Arbeitgeber prangte über dem wachsamen Auge, das Amerikas berühmtester Detektiv sich als Erkennungszeichen erwählt hatte.
    We never sleep.
    Tom hatte geschlafen, als es darauf ankam, und es spielte keine Rolle, dass er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Mitarbeiter in Allan Pinkertons Detektivagentur gewesen war. Der Präsident hatte Tom in seinem Umfeld behalten wollen, auch nachdem Pinkerton in Ungnade gefallen war. Seither waren andere für den persönlichen Schutz des Präsidenten zuständig.
    Aus Pinkertons Truppe war nur Tom bei Lincoln geblieben, weil Lincoln es so wollte. Und Tom ebenfalls. Er bewunderte den Präsidenten. Nicht wegen seines Charismas. Damit war es nicht weit her, fand Tom. Lincoln wirkte oft herb, fast hölzern, und die lange hagere Erscheinung mit den schweren Tränensäcken und der öligen Haut war wenig einnehmend. Aber früher

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