Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
des Hydesburg Hill.
Wo das Loch im Fels war.
Der Tunnel, in dem der Zug verschwand.
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
Er blickte auf, zu Dobbins. Der sah noch immer lächelnd zu ihm herab.
Dann, als hätte jemand ihn von weit her gerufen, wandte Dobbins den Kopf zur Lokomotive. Seine Augen weiteten sich, und sein Mund öffnete sich wie zu einem Schrei.
Dieser Mann darf nicht entkommen.
Oh nein, Sir. Das wird er nicht.
Auf dem Friedhof
von St. Petersburg, 26. Juli 1865
Joe Harpers Schwester Susie weinte so hemmungslos, dass Sereny, ihre Mutter, sie stützen musste. Es waren nicht viele, die sich unter den Ulmen auf dem Friedhof versammelt hatten.
Pfarrer Sprague sprach einige kurze Worte, dann machte sich Nate Donaghy mit seinem Helfer, dem feingliedrigen älteren Mann, daran, feuchte Erde in das frische Grab zu schaufeln, während die Trauernden sich allmählich zerstreuten. Wind kam auf und trieb Wolken von Kiefernstaub zum Mississippi. In der Nacht hatte es geregnet, die Luft roch klar und frisch. Es würde heiß werden.
Der Pfarrer trat zu Tom. »Es wird Zeit, Tom. Ich denke, sie warten schon auf uns.«
Tom nickte, und gemeinsam schlugen sie den kurzen Weg zur Kirche ein. Sprague zupfte seinen weißen Kragenspiegel zurecht und schüttelte den Kopf. »Furchtbar, einfach furchtbar. Wir waren eine nette, friedliche Gemeinde, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Wir waren wie Lämmer und haben einen Wolf in unseren Reihen beherbergt, ohne dass wir es wussten.«
Einen Wolf.
Dämon ist Wolf, du bist Hund. Jagdhund.
Shipshewanos Worte klangen in Toms Ohren nach. Der Häuptling und seine Familie hatten das Wäldchen hinter dem Hydesburg Hill verlassen, hieß es. Für immer. Tom war noch einmal zu ihnen geritten, hatte seine Schulden bezahlt und noch ordentlich was draufgelegt, nachdem er gesehen hatte, wie der Lynchmob den Häuptling zugerichtet hatte. Sein schlechtes Gewissen konnte er auch mit noch so vielen Dollars nicht beruhigen, aber der Häuptling war zäh und schien die Verletzungen gut wegzustecken. Tom hoffte, sie würden auf ihrem Zug nach Westen einen Platz finden, wo man sie in Ruhe ließ.
Sprague räusperte sich. Er schien auf eine Antwort von Tom zu warten.
»Ja, Hochwürden. Furchtbar. Was er diesen Frauen und meiner Tante und nicht zuletzt Joe Harper angetan hat. Wissen Sie etwas über ihn? Ich meine, wo er war, bevor er nach St. Petersburg kam?«
Sprague schnaubte und lächelte freudlos. »Oh, Dobbins war schon immer hier. Seine Eltern gehörten zu den ersten Siedlern, die mit dem alten Moses Bates und mir in den Zwanzigerjahren nach St. Petersburg kamen, Tom. Der Junge hat mir sehr leidgetan. Er war schlau, weißt du? Er war schon immer ziemlich schlau. Und er war ein Einzelkind. Aber sein Vater war ein sehr weicher Mann, nicht geschaffen für die Wildnis, wie sie damals noch war. Hat eine Farm aufgebaut, aber mit wenig Erfolg, meine ich. Und seine Mutter war ein richtiges Biest. Eine Ausgeburt der Hölle, ich kann’s nicht anders sagen. Weiß Gott, wie Dobbins’ Vater an die geraten ist. Sie hat getrunken, hat ihren Mann geschlagen und auch ihren Sohn. Grün und blau.
Dobbins war der Einzige der Familie, der in die Kirche kam, und oft war sein Hintern so wund, dass er die ganze Predigt auf der Bank hin und her gerutscht ist, weil er nicht wusste, wie er sich hinsetzen sollte. Der Junge hat fleißig gelernt, aber irgendwann habe ich mir Sorgen gemacht, weil die Mutter ihn ständig geschlagen hat und weil er anfing, Tiere zu quälen. Nichts Dramatisches, Fröschen ein Bein ausreißen, Katzen den Schwanz abschneiden, solche Dinge. Aber ich habe mir Sorgen gemacht, dass sein Charakter verkommt.
Ich weiß noch, wie er einmal hinter der Kirche stand und ganz gebannt eine Katze im hohen Gras angestarrt hat. Sie hat ihn angefaucht, um ihre Jungen zu verteidigen, die sie gerade gesäugt hat. ›Sie beschützt sie‹, hat er gesagt und mich dabei völlig ratlos angesehen, als wäre das nicht das Natürlichste von der Welt.«
Sprague blieb einen Moment stehen und schwieg. Er schüttelte verständnislos den Kopf.
Tom wollte gerade etwas sagen, als der Pfarrer schließlich weitersprach. »Es ist nicht recht, das zu denken, aber wir waren alle fast erleichtert, als die Hütte der Dobbins eines Nachts in Flammen aufging und die Mutter verbrannt ist. Ich … schon damals kamen Gerüchte auf, der Junge könnte etwas damit zu tun haben, aber niemand hat das ernsthaft geglaubt.
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