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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Zuerst Wien
    1       Der Mann, der hier das Sagen hatte, blickte hinauf in den Himmel. Eine halbe Minute und mehr betrachtete er die schweren, grauen Wolken, betrachtete die Veränderungen an den Rändern, das Ausstrecken kleiner Arme und Tentakel, die auch gleich wieder verschwanden oder sich abstießen, um für einen Moment ein flüchtiges Eigenleben zu führen.
    Mit diesen Wolken war ein kühler Wind gekommen und hatte nach zwei Wochen Hitze und Schwüle der Stadt eine Erleichterung beschert, als wäre einem Atemlosen ein Sauerstoffgerät übergestülpt worden. Es war ein Heer von Wiederbelebten, das an diesem Morgen zu den Arbeitsplätzen strebte. Ein ungeheurer Fleiß, ein großer Schwung in einem jeden Tun und Handeln würde an diesem Tag zu verzeichnen sein. Und würde solcherart diesen heißen Juli in ein Davor und ein Danach spalten. Denn bereits am nächsten Tag sollte sich eine weitere Hitzeperiode ergeben, so daß die Menschen erneut in einen betäubten Zustand verzögerter Bewegung und nur halb gedachter Gedanken verfallen würden.
    Jetzt aber, an diesem einen Tag, der seinen Sonnenaufgang drei Stunden zuvor erlebt hatte, zog eine klare, belebende Frische in die Hirne der Menschen ein und zwang die meisten von ihnen, ihre Gedanken als einen Schnürschuh zu empfinden, der nur mittels einer gebundenen Schleife auch einen echten Nutzen ergab. Was einmal leichter und einmal schwerer fiel: eine Schleife binden.
    Letzteres – die Umständlichkeit manch gedanklicher Schnürung – mußte wohl ausnahmslos für jenes gute Dutzend Personen gelten, das sich auf dem Dach eines Wohnhochhauses eingefunden hatte. Die freiliegende Plattform im achtundzwanzigsten Stockwerk wurde von der Vertiefung eines gefüllten Pools beherrscht. Eine gläserne Brüstung grenzte die Längsseiten ab, während die Breiten von den kaffeebraunen Fassaden überstehender Gebäudeteile abgeschirmt wurden. Pool ist ein zu harmloses Wort. Es handelte sich um ein regelrechtes Schwimmbad, das sich in luftiger Höhe über die Fläche erstreckte, von wo man beinahe sämtliche Teile der Stadt übersehen konnte.
    Der Mann, der hier das Sagen hatte, war aber nicht an der Stadt interessiert, weder am Zentrum, das im Strahl einiger durchbrechender Lichtstrahlen gesegnet anmutete, noch an den Ausläufern im Westen, die an bewaldete Hügel stießen. Vielmehr hatte er seinen Kopf in den Nacken gelegt und sah gerade nach oben. Er genoß die kühle Luft, als gäbe es nichts Schöneres und Besseres auf dieser Welt. Tatsächlich wäre ihm in diesem Moment auch kaum etwas eingefallen, was er dem vorgezogen hätte.
    Die anderen freilich gingen davon aus, daß Richard Lukastik schlichtweg nachdachte. Daß seine ganze Haltung einen Ausdruck hochkonzentrierter Grübelei darstellte.
    Da nun aber andererseits eine Menge Leute darauf warteten, ihre Arbeit zu erledigen, trat Lukastiks Assistent von der Seite an seinen Chef heran, feuchtete sich die Lippen mit seiner belegten Zunge und fragte mit gedämpfter Stimme: »Was sollen wir tun?«
    Das Gedämpfte seiner Stimme war spöttisch gemeint. Ohne einen gewissen Spott hätte er die vielen Jahre der Zusammenarbeit nicht überstanden. Er verachtete Lukastik. Was sicher auch darin begründet lag, daß er nun mal nicht der jugendliche oder zumindest jüngere Mitarbeiter an der Seite seines Vorgesetzten war, sondern wie Lukastik siebenundvierzig Jahre zählte. Wer genau von den zweien der ältere war, wußten beide nicht. Dieses lächerliche kleine Geheimnis zwischen ihnen war erhalten geblieben wie ein letztes Band, das nicht verbindet, sondern trennt. Natürlich hätte es kaum eine Mühe bereitet, das genaue Geburtsdatum des jeweils anderen herauszufinden. Aber beide Männer schreckten davor zurück. Und das war auch gut so. In ihrer Scheu steckte nichts weniger als eine tiefe Moral.
    Es muß noch gesagt werden, daß auch Lukastik für seinen sogenannten Assistenten eine ähnliche Abneigung verspürte wie dieser für ihn. Alles an diesem Mann erzeugte bei Lukastik einen Ekel, der einem leichten Frösteln gleichkam: dessen Gang, dessen Kleidung, das Klappern genagelter Schuhe, die stets blanke, vom Rasieren wie geschmirgelt wirkende rötlichsilbrige Gesichtshaut, vor allem aber seine Art, die Lippen zu befeuchten und sie nahe an den Kopf und die Ohren des Gegenübers heranzuführen, bevor er etwas sagte. Eine solche Nähe war Lukastik zuwider. Er meinte ein jedes Mal zu spüren, wie der Speichel von den Lippen weg

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