Handyman Jack 05 - Todesfrequenz
1
Kate Iverson blickte aus dem Fenster des dahinrasenden Taxis und überlegte, wo sie sich befand. New York war nicht ihre Stadt. Sie kannte bestimmte Viertel, und bei Tage hätte sie vielleicht eine vage Vorstellung von ihrem augenblicklichen Aufenthaltsort gehabt, doch jetzt – in der Dunkelheit und bei dem herrschenden Nebel – hätte sie überall und nirgendwo sein können.
Sie hatte die Fahrt vor einer halben Stunde und vor wer weiß wie vielen Meilen in den West Twenties mit der Aufforderung »Folgen Sie diesem Taxi dort« begonnen –
ich kann noch immer nicht glauben, dass ich das wirklich gesagt habe –
und befand sich jetzt auf der anderen Seite der Stadt und fuhr den FDR Drive hinauf. Der East River hatte ihr als Orientierung gedient, aber während die Dämmerung in Nacht überging, blieb der Fluss hinter ihr zurück und wurde von dunklen Gebilden und verschwommenen Lichtern im Nebel rechts und links der Straße abgelöst.
»Was für eine Straße ist das?«, fragte sie den Chauffeur.
Durch die Plexiglasabtrennung kam die fremdländisch klingende, von doppelten rollenden
R’s
gekennzeichnete Antwort: »Bruckner Expressway.« Der Fahrerausweis zeigte ein dunkles schnurrbärtiges Gesicht mit streng blickenden schwarzen Augen und teilte mit, dass sein Besitzer Mustafah Salaam hieß.
Sie hatte schon oft in den regelmäßig ausgestrahlten Verkehrsnachrichten des Stadtsenders New York City Radio Meldungen über den »Bruckner« gehört, hatte aber keine Ahnung, wo genau er war.
»Das ist die Bronx«, fügte der Fahrer in Erwartung der nächsten Frage hinzu.
Kate verspürte ein schnelles Aufflackern von Angst. Die Bronx? Visionen von ausgebrannten Gebäuden und mit Trümmern übersäten Grundstücken schossen ihr durch den Kopf.
Oh, Jeanette, dachte sie und blickte nach vorne auf das Taxi, das sie verfolgten, wohin willst du? Wo führst du mich hin?
Kate hatte ihre beiden halbwüchsigen Kinder zu ihrem Ex-Ehemann gebracht und sich in ihrer kinderärztlichen Gruppenpraxis in Trenton Urlaub genommen, um Jeanette zu betreuen, während sie sich von ihrer Hirntumortherapie erholte. Die noch im Erprobungsstadium befindliche Behandlungsmethode hatte sich als rundum erfolgreich erwiesen. Es gab keine negativen Nebenwirkungen… jedenfalls keine, die Jeanettes behandelndem Hausarzt aufgefallen wären.
Doch seit Abschluss der Behandlung hatte Kate eine deutliche Persönlichkeitsveränderung wahrgenommen. Die Jeanette Vega, die sie im Verlauf der vergangenen zwei Jahre kennen und innig lieben gelernt hatte, war ein warmer, freigiebiger Mensch voller Lebensfreude, der sich zu allem und jedem eine Meinung bildete. Eine erfreulich scharfzüngige Plaudertasche. Allmählich hatte sie sich jedoch verändert. Die neue Jeanette war kalt und abweisend, sagte nur selten ein Wort, außer man sprach sie direkt an, und verließ ihre Wohnung ohne einen Hinweis darüber, wohin sie ging – und war häufig stundenlang verschwunden.
Zuerst hatte Kate dieses Verhalten einer akuten reaktiven Depression zugeschrieben. Warum auch nicht? Welche medizinische Diagnose kann einen Menschen heftiger in seinen Grundfesten erschüttern als die eines inoperablen bösartigen Gehirntumors? Doch mit dem Begriff Depression ließ sich ihr Verhalten nicht ausreichend erklären. Als Jeanette deprimiert hätte reagieren sollen und können – nämlich als ihr mitgeteilt wurde, dass in ihrem Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigenes Todesurteil wucherte – war sie gut gelaunt und gelöst wie eh und je gewesen. Nun hingegen, nach einer geradezu wunderbaren Heilung, durch die sie ihre Zukunft zurückgewonnen hatte, war aus ihr eine völlig andere Person geworden.
Vielleicht handelte es sich um eine Stressreaktion.
Oder eine Nebenwirkung der Therapie. Als Ärztin war Kate stolz darauf, hinsichtlich medizinischer Neuerungen stets auf dem Laufenden zu sein, daher war sie vertraut mit den Grenzen der medizinischen Kunst. Die experimentelle Behandlungsmethode, die Jeanette gerettet hatte, schien aber eher in den Bereich der Sciencefiction zu gehören.
Dennoch hatte sie angeschlagen. Der Tumor war abgestorben, und Jeanette würde weiterleben.
Aber würde sie ohne Kate weiterleben?
Das, so gab Kate insgeheim zu, war es, was sie eigentlich beunruhigte. Mit Riesenschritten auf das zugehend, was man das mittlere Alter nannte – und mit vierundvierzig verdammt gut in Form, wie sie wusste, aber dennoch sechs Jahre älter als Jeanette – hatte
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