Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
schmutzigen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Um seinen Hals hing eine Lederschnur mit einem Kupferpenny. Tom überlegte einen Augenblick. Dann erkannte er die Züge seines alten Freundes. »Jim? Bist du das?«
»Herr im Himmel! Tom Sawyer! Ich dacht schon, die verdammten Rebs hätten dich erwischt.«
Jim schien unschlüssig zu sein, ob er Tom umarmen durfte, obwohl er ihn kannte, seit Tom ein kleiner Junge war. Schließlich trug Tom einen Anzug und war ein weißer Mann, während Jim Mrs Watsons Haussklave gewesen war, bevor sie ihm in ihrem Testament die Freiheit geschenkt hatte. Etwas steif streckte Jim schließlich die Hand aus.
Tom ergriff sie und zog den alten Freund dann kurz an seine Brust.
Jim schnaubte und lachte, doch als Tom ihn losließ, schimmerten Jims Augen feucht. »Hätt nich’ gedacht, dass man dich noch mal sieht. ’s hieß, du wärst ’n feiner Mann geworden in Washington. Wärst bei Präsident Linkum und so. ’ne Schande, das mit sein’ Tod. Verdammte Rebs!«
Tom schüttelte den Kopf. »Bin kein feiner Mann, Jim. War’s nie und bin’s auch jetzt nicht. Hab ein Telegramm von Siddy bekommen. Bin wegen der Familie da. Wollt mich in St. Petersburg umsehen.«
Jim nickte traurig. »Wegen Miss Polly, hm?«
Tom lächelte. »Ja. Schätze, sie kann jede Unterstützung brauchen. Sie macht sich bestimmt verrückt wegen Sids Hochzeit, oder?«
Jim blinzelte verwirrt. Er leckte sich über die Lippen. »Wegen Master Sids Hochzeit? Tom, Miss Polly macht sich nich’ verrückt. Kann sie gar nich’, sie …«
Die Verwirrung in Jims Zügen wich einer tiefen Bestürzung. Jim schluckte und senkte die Stimme. »Sie is’ tot, Tom«, sagte er heiser. »Seit drei Tagen. Ich dachte, das Telegramm von Master Sid hätte dir …« Jims Stimme brach.
Tom spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Ihm wurde schwindelig, seine Beine gaben nach, und er ließ sich auf Jims Hühnerkäfig sinken. Die Vögel gackerten empört auf. »Tot?«, flüsterte er.
»Sie wird gerade beerdigt. Ich muss den Dampfer abladen, weißt ja, Tom, sonst wär ich auch gekommen. Aber die halbe Stadt is’ da. Wenn du dich beeilst, kommste vielleicht noch rechtzeitig.«
~~~
Der hochgewachsene Fremde mit dem Koffer in der Hand zog sofort die Blicke auf sich. Wer kam schon mit einem Koffer zu einer Beerdigung? Auch sein sandfarbener Gehrock wirkte fehl am Platz neben den dunklen Anzügen der Herren und den schwarzen Glockenröcken und Seidenhauben der Ladys. Die Trauernden drehten sich nach ihm um, beugten sich flüsternd zu einem Nachbarn.
Tom nahm das Tuscheln und Kopfschütteln der Trauergemeinde kaum wahr. Wie in Trance war er die anderthalb Meilen vom Ort hinauf zum Hügel gelaufen, auf dem der Friedhof lag: ein von einem morschen, windschiefen Bretterzaun umschlossenes Viereck aus zahllosen eingesunkenen Gräbern, die im Schatten einiger Ulmen lagen. Verwitterte, oben abgerundete Holzbretter mit den verblichenen Namen der Verstorbenen kennzeichneten die kaum mehr zu erkennenden Grabstellen. Keines der Gräber war mit Blumen geschmückt, und fast niemand in St. Petersburg hatte das Geld, um ein kleines Metallgitter um das Grab eines Verwandten herum errichten zu lassen.
Es war so heiß, dass Tom der Schweiß in den aufgestellten Kragen seines Hemdes lief. Er schlug nach einer Mücke auf seiner Wange.
Jim hatte recht: Die halbe Stadt war da.
Tom blieb in der letzten Reihe stehen und lauschte dem trägen Singsang von Pfarrer Sprague, der weißhaarig und gebeugt vor der Trauergemeinde stand. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um zu sehen, wie der Sarg in der Grube verschwand. Sechs kräftige Männer ließen die schwarze Kiste aus groben Eichenbrettern mit Seilen in das Loch hinab. Sid war einer von ihnen.
Tom musterte ihn. Sein Halbbruder war dick geworden, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, doch das kurze blonde Haar und die weichen Gesichtszüge hatten ihm seine jungenhafte Ausstrahlung bewahrt. Sid zitterte vor Anstrengung, als das grobe Seil durch seine Hände glitt. Vielleicht zitterte er auch vor Trauer.
Tante Polly.
Zwei spindeldürre Männer in der zerschlissenen Uniform der Union bliesen in eine verbeulte Tuba und eine ebenso schäbige Trompete und untermalten den Zug der Trauergemeinde mit einer schaurigen Melodie.
Tante Polly.
Tränen schossen Tom in die Augen. Er hatte nicht geweint, als Lincoln starb. Der Zorn und die Aufgabe, den Mörder zu fassen, hatten ihn davor bewahrt. Doch
Weitere Kostenlose Bücher