Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
entspreche, aber es sei keine Strafe, sagte er, sondern Vorsicht. Moosbrugger beklagte sich bei dem Anstaltsgeistlichen; aber der war ein guter Greis, dessen freundliche Seelsorge die veraltete Schwäche hatte, daß sie vor Sexualverbrechen versagte. Er verabscheute sie mit dem Unverständnis eines Körpers, der nicht einmal ihren Rand gestreift hat, und erschrak sogar darüber, daß Moosbrugger mit seinem ehrlichen Aussehen die Schwäche des persönlichen Mitleids in ihm erregte; er wies ihn an den Anstaltsarzt, während er selbst, wie in allen solchen Fällen, nur eine große Bitte zum Schöpfer sandte, die auf keine Einzelheiten einging und so allgemein von Verwirrungen des Irdischen sprach, daß im Augenblick des Gebets Moosbrugger ebenso inbegriffen war wie die Freidenker und Atheisten. Der Gefängnisarzt aber meinte zu Moosbrugger, alles, worüber er sich beklage, sei doch gar nicht so schlimm, gab ihm einen behaglichen Klaps und ließ sich durch nichts bewegen, auf seine Beschwerden einzugehn, denn wenn Moosbrugger recht verstand, sei das überflüssig, solang die Frage, ob er krank sei oder simuliere, keine Antwort durch die Fakultät gefunden habe. Ergrimmt ahnte Moosbrugger, daß jeder von denen sprach, wie es ihm paßte, und daß es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehn, wie sie wollten. Er hatte das Gefühl einfacher Leute, daß man den Gebildeten die Zunge abschneiden sollte. Er blickte in das Doktorsgesicht mit den Schmissen, in das von innen ausgetrocknete geistliche Gesicht, in das streng aufgeräumte Kanzleigesicht des Verwalters, sah jedes in einer anderen Weise in das seine schaun, und etwas für ihn Unerreichbares, aber ihnen Gemeinsames lag in diesen Gesichtern, das lebenslang sein Feind gewesen war.
Die zusammenziehende Kraft, die draußen jeden Menschen mit seinem Eigendünkel mühsam zwischen all das andere Fleisch preßt, war unter dem Dach des Strafhauses, trotz aller Disziplin um ein weniges schlaffer, wo alles auf Warten lebte und die lebendige Beziehung der Menschen zueinander, selbst wenn sie grob und heftig war, von einem Schatten der Unwirklichkeit ausgehöhlt wurde. Moosbrugger reagierte auf die Entspannung nach dem Kampf der Verhandlungen mit dem gesamten starken Körper. Er kam sich vor wie ein lockerer Zahn. Die Haut juckte ihn. Er fühlte sich angesteckt und elend. Es war eine wehleidige, zart nervöse Überempfindlichkeit, wie sie ihn manchmal befiel; die Frau, die unter der Erde lag und ihm das eingebrockt hatte, erschien ihm als ein derbes böses Weibsstück gegenüber einem Kind, wenn er sie mit sich verglich. Trotzdem war Moosbrugger im ganzen nicht unzufrieden; er konnte an vielem bemerken, daß er hier eine wichtige Person sei, und das schmeichelte ihm. Sogar die Fürsorge, die allen Sträflingen unterschiedslos zuteil wurde, bereitete ihm Genugtuung. Der Staat mußte sie nähren, baden, kleiden und sich um ihre Arbeit, Gesundheit, ihre Bücher und ihren Gesang kümmern, seit sie sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, während er das vordem niemals getan hatte. Moosbrugger genoß diese Achtsamkeit, wenn sie auch streng war, wie ein Kind, dem es gelungen ist, seine Mutter zu zwingen, sich zornig mit ihm zu beschäftigen; aber er wünschte nicht, daß sie lange dauere; die Vorstellung, daß er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt oder wieder einer Irrenanstalt übergeben werden könnte, erregte jenen Widerstand in ihm, den wir fühlen, wenn uns alle Anstrengungen, unserem Leben zu entkommen, immer wieder in die gleichen, verhaßten Lebenslagen zurückführen. Er wußte, daß sein Verteidiger sich um die Wiederaufnahme des Verfahrens bemühte und daß er noch einmal untersucht werden sollte, aber er nahm sich vor, rechtzeitig dagegen aufzutreten und darauf zu bestehen, daß man ihn töte.
Daß sein Abschied seiner würdig sein müsse, stand für ihn fest, denn sein Leben war ein Kampf um sein Recht gewesen. In der Einzelzelle dachte Moosbrugger darüber nach, was sein Recht sei. Das konnte er nicht sagen. Aber es war das, was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte. In dem Augenblick, wo er daran dachte, schwoll sein Gefühl an. Seine Zunge wölbte sich und setzte zu einer Bewegung an wie ein Hengst im spanischen Schritt; so vornehm wollte sie es betonen. »Recht,« dachte er außerordentlich langsam, um diesen Begriff zu bestimmen, und dachte so, als ob er mit jemand spräche, »das ist, wenn man nicht unrecht tut oder so, nicht wahr?«
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