Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
bitten wir Sie um detaillierte Bekanntgabe Ihrer Wünsche für Wiedereinrichtung der Welt in Barock, Gotik, und so weiter?«
Ulrich lächelte, aber Graf Leinsdorf fand, daß er in diesem Augenblick ein wenig zu heiter sei, und drehte abwehrend, mit gesammelter Kraft einen Daumen um den anderen. Sein Gesicht mit dem Knebelbart erinnerte, in der Härte, die es annahm, an die Zeit Wallensteins, und dann tat er eine Äußerung, die sehr bemerkenswert war. »Lieber Doktor,« sagte er »in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück!«
Diese Äußerung überraschte vor allen Dingen Graf Leinsdorf selbst, denn er hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Er war konservativ, ärgerte sich über Ulrich und hatte bemerken wollen, daß das Bürgertum den universalen Geist der katholischen Kirche verschmäht habe und nun an den Folgen leide. Auch wäre es nahegelegen, die Zeiten des absoluten Zentralismus zu preisen, wo die Welt noch von verantwortungsbewußten Personen nach einheitlichen Gesichtspunkten geleitet worden ist. Aber mit einemmal war ihm, während er noch nach Worten suchte, eingefallen, daß er wirklich unangenehm überrascht sein würde, wenn er eines Morgens ohne warmes Bad und Eisenbahn aufwachen müßte und statt der Morgenblätter bloß ein kaiserlicher Ausrufer durch die Straßen ritte. Graf Leinsdorf dachte also »Was einmal war, wird niemals wieder in der gleichen Weise sein«, und während er das dachte, war er sehr erstaunt. Denn angenommen, daß es in der Geschichte kein freiwilliges Zurück gebe, so glich die Menschheit einem Mann, den ein unheimlicher Wandertrieb vorwärtsführt, für den es keine Rückkehr gibt und kein Erreichen, und das war ein sehr bemerkenswerter Zustand.
Nun besaß zwar Se. Erlaucht eine außerordentliche Fähigkeit, zwei Gedanken, die einander widersprachen, mit glücklicher Hand so auseinander zu halten, daß sie in seinem Bewußtsein nicht zusammentrafen, aber diesen Gedanken, der gegen alle seine Grundsätze gerichtet war, hätte er ablehnen müssen. Allein er hatte eine gewisse Neigung für Ulrich gefaßt, und soweit ihm seine Pflichten Zeit ließen, bereitete es ihm großes Vergnügen, diesem geistig regsamen und ihm so gut empfohlenen Mann, der bloß als Bürgerlicher ein wenig abseits von den wirklich großen Fragen stand, politische Gegenstände streng logisch zu erklären. Wenn man aber einmal mit Logik beginnt, wo ein Gedanke von selbst aus dem vorangehenden folgt, weiß man zum Schluß nie, wie das endet. Graf Leinsdorf nahm darum seine Äußerung nicht zurück, sondern sah Ulrich bloß eindringlich schweigend an.
Ulrich nahm noch eine zweite Mappe zur Hand und benützte die Pause, um beide Mappen Sr. Erlaucht zu übergeben. »Der zweiten habe ich die Überschrift ‚Vorwärts zu…!‘ geben müssen« begann er zu erläutern, aber Se. Erlaucht fuhr auf und fand, daß seine Zeit schon abgelaufen sei. Er bat dringend, die Fortsetzung für ein andermal zu lassen, wenn mehr Zeit zum Nachdenken bleibe. »Ihre Kusine wird übrigens eine Gesellschaft der bedeutendsten Köpfe für diese Zwecke einladen« erzählte er, schon im Stehen. »Gehn Sie hin; gehen Sie, bitte, gewiß hin; ich weiß nicht, ob es mir selbst erlaubt sein wird, dabei zu sein!«
Ulrich packte die Mappen ein, und Graf Leinsdorf kehrte sich im Dunkel des Türrahmens noch einmal um. »Ein großer Versuch macht natürlich alle Leute verzagt; aber wir werden sie schon aufrütteln!« Sein Pflichtgefühl ließ es nicht zu, Ulrich ohne Trost zurückzulassen.
59
Moosbrugger denkt nach
INZWISCHEN HATTE SICH Moosbrugger in seinem neuen Gefängnis eingerichtet, so gut es ging. Kaum hatte sich das Tor geschlossen, so war er angebrüllt worden. Man hatte ihm, als er aufbegehrte, mit Prügeln gedroht, wenn er sich recht erinnerte. Man hatte ihn in eine Einzelzelle gesteckt. Beim Spaziergang im Hof waren seine Hände gefesselt, und die Augen der Wärter hingen an ihm. Er war geschoren worden, ungeachtet seine Verurteilung noch nicht rechtskräftig war, angeblich, um ihn zu messen. Man hatte ihn mit einer stinkenden Schmierseife abgerieben, unter dem Vorwand einer Desinfektion. Er war ein alter Reisender, er wußte, daß nichts von alledem erlaubt war, aber hinter dem Eisentor ist es nicht einfach, in Ehren zu bestehn. Sie machten mit ihm, was sie wollten. Er ließ sich dem Gefangenhausleiter vorführen und beschwerte sich. Der Vorstand mußte zugeben, daß einiges nicht der Vorschrift
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