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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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daß Sie mir Gelegenheit geben, mich auszusprechen. Es ist Zeit, daß etwas geschieht; ich mache Erfahrungen, die mich nachdenklich stimmen und für einen ausländischen Beobachter nicht geeignet sind. Die Parallelaktion sollte doch alle Leute glücklich erregen, das beabsichtigen Erlaucht doch auch?«
    »Na, ja, natürlich!«
    »Aber das Gegenteil gelingt!« rief Ulrich aus. »Ich habe den Eindruck, daß sie alle gebildeten Leute auffallend bedenklich und traurig macht!«
    Se. Erlaucht schüttelte den Kopf und drehte einen Daumen um den anderen, wie er es immer tat, wenn sich sein Gemüt nachdenklich verfinsterte. In der Tat hatte auch er schon Erfahrungen gemacht, die ähnlich denen waren, die ihm Ulrich nun berichtete.
    »Seit es bekanntgeworden ist, daß ich mit der Parallelaktion etwas zu tun habe,« erzählte dieser »vergehen nicht drei Minuten, wenn ich mit jemand zusammenkomme, der mit mir ein wenig allgemeiner sprechen will, ohne daß er mir sagt: »Was wollen Sie eigentlich mit der Parallelaktion erreichen? Es gibt ja heute doch keine großen Leistungen und keine großen Männer mehr!«
    »Ja, damit meinen sie bloß sich selber nicht!« warf Se. Erlaucht ein. »Ich kenne das, ich bekomme es auch zu hören. Die Großindustriellen schimpfen auf die Politik, die ihnen nicht genug Schutzzölle abwirft, und die Politiker schimpfen auf die Industrie, die zu wenig Wahlgelder hergibt.«
    »Sehr richtig!« nahm Ulrich seine Darlegung wieder auf. »Ganz bestimmt glauben die Chirurgen, daß die Chirurgie seit den Tagen Billroths Fortschritte gemacht hat; sie sagen bloß, daß die übrige Medizin und die ganze Naturforschung der Chirurgie zu wenig nützt. Ich möchte sogar behaupten, wenn Erlaucht es mir gestatten, daß auch die Theologen überzeugt sind, die Theologie sei heute irgendwie weiter als zu Christi Zeit –«
    Graf Leinsdorf hob in nachsichtiger Abwehr die Hand.
    »Also ich bitte um Entschuldigung, wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, es hätte auch gar nicht sein müssen; denn das, worauf ich hinaus will, scheint etwas ganz Allgemeines zu bedeuten. Die Chirurgen, habe ich gesagt, behaupten, daß die Naturforschung nicht ganz das hält, was man von ihr verlangen müßte. Spricht man dagegen mit einem Naturforscher über die Gegenwart, so klagt er darüber, daß er im allgemeinen gern seinen Blick ein bißchen erheben möchte, sich aber im Theater langweilt und keinen Roman findet, der ihn unterhält und anregt. Spricht man mit einem Dichter, so sagt dieser, es gibt keinen Glauben. Und spricht man, da ich die Theologen jetzt auslassen will, mit einem Maler, so kann man ziemlich sicher sein, er wird behaupten, daß die Maler in einer Zeit mit so miserabler Dichtung und Philosophie nicht ihr Bestes geben können. Die Reihenfolge, in der das einer auf den anderen schiebt, ist natürlich nicht immer die gleiche, aber jedesmal hat es etwas vom Schwarzen Peter, wenn Erlaucht das kennen, oder vom Gevatter, leih mir die Scheer an sich; und die Regel, die dem zugrunde liegt, oder das Gesetz kann ich nicht herausbringen! Ich fürchte, man muß sagen, daß ein jeder Mensch im besonderen und mit sich gerade noch zufrieden ist, aber im allgemeinen ist ihm aus irgend einem universalen Grund in seiner Haut nicht wohl, und es scheint, daß die Parallelaktion dazu bestimmt ist, das an den Tag zu bringen.«
    »Du lieber Gott,« antwortete Se. Erlaucht auf diese Ausführungen, ohne daß recht klar wurde, was er damit meine, »nichts als Undankbarkeit!«
    »Ich habe übrigens« fuhr Ulrich fort »schon zwei Mappen voll schriftlicher Anträge allgemeiner Natur, die Ew. Erlaucht zurückzustellen ich noch nicht Gelegenheit fand. Ich habe eine davon mit der Überschrift ‚Zurück zu…!‘ versehen. Merkwürdig viel Menschen teilen uns nämlich mit, daß die Welt in früheren Zeiten auf einem besseren Punkt gewesen sei als jetzt, zu dem sie die Parallelaktion bloß zurückzuführen brauchte. Wenn ich von dem selbstverständlichen Verlangen Zurück zum Glauben absehe, so ist noch ein Zurück zum Barock, zur Gotik, zum Naturzustand, zu Goethe vertreten, zum deutschen Recht, zur Sittenreinheit und etliches andere.«
    »Hm ja; aber vielleicht ist ein wahrer Gedanke darunter, und man sollte ihn nicht entmutigen?« meinte Graf Leinsdorf.
    »Das wäre möglich; aber wie soll man antworten? Ihr Geschätztes vom Soundsovielten reiflich erwogen, halten wir derzeit den Zeitpunkt noch nicht geeignet …? Oder: Mit Interesse gelesen,

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