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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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schon keine natürliche Ursache mehr habe. Wenn er aber bei Gericht sagte, es seien die Freimaurer oder die Jesuiten oder die Sozialisten, die ihn auf diese Weise verfolgten, so verstand ihn kein Mensch. Die Juristen konnten zwar besser reden als er und hielten ihm alles mögliche entgegen, aber von den wirklichen Zusammenhängen hatten sie keine Ahnung.
    Und wenn das ein ige Zeit gedauert hatte, so bekam Moosbrugger Angst. Versuche einer, sich mit gefesselten Händen auf die Straße zu stellen und abzuwarten, wie sich die Leute benehmen! Das Bewußtsein, daß seine Zunge oder etwas, das noch weiter drinnen in ihm sich befand, wie mit Leim gefesselt sei, bereitete ihm eine klägliche Unsicherheit, die zu verbergen er sich tagelang Mühe geben mußte. Aber dann kam plötzlich eine scharfe, man könnte fast auch sagen lautlose Grenze. Mit einemmal war ein kalter Hauch da. Oder in der Luft tauchte ganz nah vor ihm eine große Kugel auf und flog in seine Brust. Und im gleichen Augenblick fühlte er etwas an sich, in seinen Augen, auf den Lippen oder in den Gesichtsmuskeln; in die ganze Umgebung kam ein Schwinden, ein Schwärzen, und während sich die Häuser auf die Bäume legten, huschten aus dem Gebüsch vielleicht ein paar rasch davonspringende Katzen hervor. Es dauerte nur eine Sekunde, und dann war dieser Zustand vorbei.
    Und damit begann eigentlich erst die Zeit, von der sie alle etwas erfahren wollten und immerzu redeten. Sie machten ihm die unnützesten Einwände, und leider konnte er sich selbst an seine Erlebnisse nur unscharf und dem Sinn nach erinnern. Denn diese Zeiten waren ganz Sinn! Sie dauerten manchmal Minuten, manchmal hielten sie aber auch tagelang an, und manchmal gingen sie in andere, ähnliche über, die monatelang dauern konnten. Um mit diesen zu beginnen, weil sie die einfacheren sind, die auch ein Richter nach Moosbruggers Meinung begreifen konnte, so hörte er dann Stimmen oder Musik oder ein Wehen und Summen, auch Sausen und Rasseln oder Schießen, Donnern, Lachen, Rufen, Sprechen und Flüstern. Das kam von überall her; es saß in den Wänden, in der Luft, in den Kleidern und in seinem Körper. Er hatte den Eindruck, daß er es im Körper mit sich trage, solange es schwieg; und sobald es ausgekommen war, verbarg es sich in der Umgebung, aber auch nie sehr weit von ihm. Wenn er arbeitete, so sprachen die Stimmen meist in abgerissenen Worten und kurzen Sätzen auf ihn ein, sie beschimpften und kritisierten ihn, und wenn er etwas dachte, so sprachen sie es aus, ehe er selbst dazu kam, oder sagten boshaft das Gegenteil von dem, was er wollte. Moosbrugger konnte nur darüber lachen, daß man ihn deshalb für krank erklären wollte; er selbst behandelte diese Stimmen und Gesichte nicht anders wie die Affen. Es unterhielt ihn, zu hören und zu sehen, was sie trieben; das war unvergleichlich schöner als die zähen, schweren Gedanken, die er selbst hatte; wenn sie ihn aber sehr ärgerten, so geriet er in Zorn, das war schließlich nur natürlich. Da er auf alle Worte, die man für ihn verwendete, stets sehr gut aufgepaßt hatte, wußte Moosbrugger, daß man das Halluzinieren nennt, und war einverstanden damit, daß er diese Eigenschaft Halluzinieren vor anderen voraus habe, die es nicht können; denn er sah auch vieles, was andere nicht sehen, schöne Landschaften und höllische Tiere, aber er fand die Wichtigkeit, die man dem beilegte, sehr übertrieben, und wenn ihm der Aufenthalt in den Irrenanstalten zu unangenehm wurde, so behauptete er ohne weiteres, daß er nur schwindle. Die Klugköpfe fragten ihn, wie laut es sei; diese Frage hatte wenig Vernunft: natürlich war es manchmal so laut wie ein Donnerschlag, was er hörte, und manchmal war es das leiseste Flüstern. Auch die Schmerzen, die ihn zuweilen quälten, konnten unerträglich sein oder bloß so leicht wie eine Einbildung. Das war nicht das Wichtige. Oft hätte er nicht genau beschreiben können, was er sah, hörte und spürte; dennoch wußte er, was es war. Es war manchmal sehr undeutlich; die Gesichte kamen von außen, aber ein Schimmer von Beobachtung sagte ihm zugleich, daß sie trotzdem von ihm selbst kämen. Das Wichtige war, daß es gar nichts Wichtiges bedeutet, ob etwas draußen ist oder innen; in seinem Zustand war das wie helles Wasser zu beiden Seiten einer durchsichtigen Glaswand.
    Und in seinen großen Zeiten beachtete Moosbrugger gar nicht die Stimmen und Gesichte, sondern er dachte. Er nannte das so, weil ihm dieses Wort

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