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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eichkätzchen oder Rosenlippe!
    Wie er da auf seiner Bank in der Zelle saß, die zugleich sein Bett und sein Tisch war, beklagte er seine Erziehung, die ihn nicht gelehrt hatte, seine Erfahrungen so auszudrücken, wie es sein müßte. Die kleine Person mit den Mausaugen, die ihm noch jetzt, wo sie schon lang unter der Erde lag, soviel Unannehmlichkeiten bereitete, ärgerte ihn. Alle waren auf ihrer Seite. Er stand schwerfällig auf. Er fühlte sich morsch wie verkohltes Holz. Er hatte wieder Hunger; die Anstaltskost war zu gering für den gewaltigen Mann, und er besaß kein Geld, um sie zu verbessern. In einem solchen Zustand konnte er sich unmöglich auf alles besinnen, was man von ihm wissen wollte. Es war eben so eine Veränderung gekommen, tagelang, wochenlang, wie der März kommt oder der April, und obenauf war dann die Geschichte geschehn. Er wußte auch nicht mehr von ihr, als im Polizeiprotokoll stand, und wußte nicht einmal, wie das dort hineingekommen war. Die Gründe, die Überlegungen, an die er sich erinnerte, die hatte er ohnedies schon in der Verhandlung gesagt; aber was wirklich geschehen war, das kam ihm so vor, als ob er plötzlich fließend etwas in einer fremden Sprache gesprochen hätte, das ihn sehr glücklich gemacht hatte, das er aber nicht mehr wiederholen konnte.
    »Soll das alles nur so bald wie möglich ein Ende nehmen!« dachte Moosbrugger.

60

Ausflug ins logisch-sittliche Reich
    WAS ÜBER MOOSBRUGGER von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind.
    Bezeichnend für diese Unglücklichen ist es, daß sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben. Die Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. Sie sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres. Durch diese Fähigkeit wird er strafbar, durch diese seine Eigenschaft der Strafbarkeit wird er Rechtsperson, und als Rechtsperson hat er teil an der überpersönlichen Wohltat des Rechts. Wer das nicht gleich versteht, der denke an die Kavallerie. Wenn ein Pferd sich bei jedem Versuch, es zu reiten, wie toll benimmt, so wird es mit besonderer Sorgfalt gewartet, bekommt die weichsten Bandagen, die besten Reiter, das ausgewählteste Futter und die geduldigste Behandlung. Wenn sich dagegen ein Reiter etwas zuschulden kommen läßt, so steckt man ihn in einen von Flöhen besetzten Käfig, entzieht ihm das Essen und gibt ihm Eisenschellen. Die Begründung dieses Unterschieds liegt darin, daß das Pferd bloß dem tierisch empirischen Reich angehört, während der Dragoner an dem logisch-sittlichen teilhat. In diesem Sinne zeichnet es den Menschen vor dem Tiere, und man darf hinzufügen, auch vor dem Geisteskranken aus, daß er nach seinen geistigen und sittlichen Eigenschaften imstande ist, rechtswidrig zu handeln und ein Verbrechen zu begehn; und da also erst die Strafbarkeit jene Eigenschaft ist, die ihn zum sittlichen Menschen erhebt, wird es verständlich, daß der Jurist eisern an ihr festhalten muß.
    Leider tritt noch hinzu, daß die Gerichtspsychiater, die berufen wären, sich dem entgegenzusetzen, gewöhnlich viel ängstlicher in ihrem Beruf sind als die Juristen; sie erklären nur solche Personen für wirklich krank, die sie nicht heilen können, was eine bescheidene Übertreibung ist, denn sie können die anderen auch nicht heilen. Sie unterscheiden zwischen unheilbaren Geisteskrankheiten, zwischen solchen, die mit Gottes Hilfe nach einiger Zeit von selbst besser werden, und endlich solchen, die der Arzt zwar auch nicht heilen kann, wohl aber der Patient vermeiden könnte, vorausgesetzt natürlich, daß durch höhere Fügung rechtzeitig die richtigen Einflüsse und Überlegungen auf ihn einwirken. Diese zweite und dritte Gruppe liefert jene nur minderwertigen Kranken, die der Engel der Medizin zwar

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