Chicagoland Vampires: Ein Biss zu viel (German Edition)
KAPITEL EINS
RUNTER KOMMEN SIE ALLE
Ende November
Chicago, Illinois
Eine kühle Brise wehte an diesem Herbstabend durch die Stadt. Am Himmel hing ein zunehmender Mond, der so nahe zu sein schien, dass man ihn mit ein wenig Anstrengung hätte berühren können. Dieser Eindruck lag allerdings vermutlich daran, dass ich mich acht Stockwerke über dem Boden befand, auf dem schmalen Metallgitter, welches das Dach der Harold-Washington-Bibliothek umspannte. Eine der charakteristischen Aluminium-Eulen – entweder eins der überzeugendsten architektonischen Details in Chicago oder eins seiner schlechtesten, je nachdem, wen man fragte – befand sich direkt über mir und starrte auf mich hinab, als ich in der frischen Luft ihren Herrschaftsbereich durchquerte.
Ich war in den letzten beiden Monaten nur selten aus meinem Zuhause in Hyde Park hervorgekrochen, wenn es nicht gerade um Essen ging – wir reden immerhin von Chicago – oder um meine beste Freundin Mallory. Als ich über den Rand des Gebäudes nach unten sah, beschlich mich spontanes Bedauern, eine Ausnahme gemacht zu haben. Die Bibliothek war nun wirklich kein Wolkenkratzer, aber sie war hoch genug, dass ein Sturz einen Menschen mit Sicherheit getötet hätte. Mir rutschte das Herz in die Hose, und jeder einzelne Muskel meines Körpers schaltete automatisch auf Überlebensmodus: Knie dich hin, halt dich am Gitter fest – und lass nie wieder los!
»Es ist gar nicht so tief, wie es aussieht, Merit.«
Ich sah zu dem Vampir zu meiner Rechten hinüber. Jonah, der mich davon überzeugt hatte hierherzukommen, lachte leise und schob sich kastanienbraune Locken aus seinem kantigen und zugleich perfekten Gesicht.
»Es ist tief genug«, sagte ich. »Und als du mir vorgeschlagen hast, ein wenig frische Luft zu schnappen, habe ich das hier definitiv nicht erwartet.«
»Vielleicht nicht. Aber du kannst wohl kaum bestreiten, dass der Ausblick großartig ist.«
Ich ließ meinen Blick über die Stadt gleiten, ohne meine verkrampften Finger von der Wand hinter mir zu lösen. Er hatte recht – am außergewöhnlichen Blick auf Downtown mit seinem Stahl und Glas und erstklassig bearbeiteten Steinen war nichts auszusetzen.
Eines hatte ich aber entgegenzusetzen: »Ich hätte auch aus dem Fenster sehen können.«
»Wo bleibt denn da die Herausforderung?«, fragte er und sprach dann sanfter weiter. »Du bist ein Vampir«, ermahnte er mich. »Die Schwerkraft folgt bei dir anderen Regeln.«
Er hatte recht. Die Schwerkraft war uns freundlicher gesonnen. Sie half uns dabei, mehr Schwung in einen Kampf zu legen, und außerdem, das hatte ich zumindest so gehört, würde uns ein Sturz aus großer Höhe nicht töten. Was nicht bedeutete, dass ich diese Theorie gerne überprüfen wollte. Nicht, wenn ich mir alle Knochen brach.
»Ich verspreche dir«, sagte er, »wenn du meinen Anweisungen folgst, wird dir der Sturz nichts anhaben können.«
Er hatte gut reden. Jonah hatte mehrere Jahrzehnte zusätzliche Vampirerfahrung und war daher bei den meisten Dingen nicht sonderlich nervös. Mir erschien meine Unsterblichkeit noch nie so fragil.
Ich blies mir meinen dunklen Pony aus dem Gesicht und sah noch einmal über den Rand hinab. Die State Street lag weit unter uns, und zu so später Stunde war sie nahezu menschenleer. Wenn das hier nicht funktionierte, würde ich wenigstens niemanden unter mir zerquetschen.
»Du musst lernen, sicher zu fallen«, sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Catcher hat mit mir trainiert. Er hat die ganze Zeit betont, wie wichtig es ist, richtig hinzufallen.« Catcher war der hübsche Kerl, der mittlerweile bei meiner früheren Mitbewohnerin und immer noch besten Freundin Mallory eingezogen war. Er war außerdem ein Angestellter meines Großvaters.
»Dann weißt du, dass unsterblich zu sein nicht bedeutet, sorglos zu sein«, fügte Jonah hinzu und streckte mir seine Hand entgegen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, was nicht nur an der Höhe, sondern auch an der Geste an sich lag.
Ich hatte mich – und meine Gefühle – in den letzten beiden Monaten sehr zurückgenommen, als Hüterin des Hauses Cadogan war ich meistens nur auf Patrouille auf unserem Anwesen unterwegs. Mir war durchaus klar, warum, denn ich war ein gebranntes Kind. Meine neu entdeckte Tapferkeit als Vampirin hatte sich praktisch in Luft aufgelöst, nachdem der Meister meines Hauses, Ethan Sullivan, der Vampir, der mich erschaffen und zur Hüterin ernannt hatte, der mein Partner
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