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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Schatten hinein. Ein Weg führte zum Gittertor, das auf die Straße mündete, ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich. Ulrich ging langsam auf diesen zu. Und dann erinnerte ihn die zwischen den Baumkronen emporragende Dunkelheit plötzlich phantastisch an die riesige Gestalt Moosbruggers, und die nackten Bäume kamen ihm merkwürdig körperlich vor; häßlich und naß wie Würmer und trotzdem so, daß man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte. Aber er tat es nicht. Die Sentimentalität der Regung stieß ihn im gleichen Augenblick zurück, wo sie ihn berührte. Durch den Milchschaum des Nebels kamen vor dem Gitter des Gartens in diesem Augenblick verspätete Fußgänger vorbei, und er hätte ihnen wohl wie ein Narr erscheinen können, wie sich sein Bild, in rotem Schlafanzug zwischen schwarzen Stämmen, nun von diesen loslöste; aber er trat fest auf den Weg und ging verhältnismäßig zufrieden in sein Haus zurück, denn wenn etwas für ihn aufbewahrt war, so mußte es etwas ganz anderes sein.

63

Bonadea hat eine Vision
    ALS ULRICH an dem Morgen, der auf diese Nacht folgte, spät und sehr zerschlagen aufstand, wurde ihm der Besuch Bonadeas gemeldet; es war zum erstenmal seit ihrem Zerwürfnis, daß sie sich wieder sehen sollten.
    Bonadea hatte in der Zeit der Trennung viel geweint. Bonadea hatte sich während dieser Zeit oft mißbraucht gefühlt. Sie hatte oft gewirbelt wie eine umflorte Trommel. Sie hatte viele Abenteuer gehabt und viele Enttäuschungen. Und obgleich die Erinnerung an Ulrich bei jedem Abenteuer in einen tiefen Brunnen versank, stieg sie nach jeder Enttäuschung daraus wieder auf; ohnmächtig und vorwurfsvoll wie der verlassene Schmerz in einem Kindergesicht. Bonadea hatte ihrem Freund schon hundertmal im stillen ihre Eifersucht abgebeten, ihren »bösen Stolz gestraft«, wie sie es nannte, und endlich entschloß sie sich, ihm einen Friedensschluß anzutragen.
    Sie war liebenswürdig, melancholisch und schön, als sie vor ihm saß, und fühlte sich im Magen elend. Er stand »wie ein Jüngling« vor ihr. Seine Haut marmorn poliert von großen Vorgängen und Diplomatie, die sie ihm zutraute. Sie hatte noch nie bemerkt, wie kräftig und entschlossen sein Gesicht aussehe. Sie hätte gerne mit ganzer Person kapituliert, aber sie traute sich nicht, so weit zu gehen, und er machte keine Miene, sie dazu einzuladen. Diese Kälte war unsagbar traurig für sie, aber groß wie eine Statue. Bonadea nahm unvermutet seine herabhängende Hand und küßte sie. Ulrich strich ihr nachdenklich über das Haar. Ihre Beine wurden auf die weiblichste Weise von der Welt schwach, und sie wollte in die Knie sinken. Da drückte sie Ulrich sanft in den Stuhl, brachte Whisky mit Soda und zündete eine Zigarette an.
    »Eine Dame trinkt nicht am Vormittag Whisky!« protestierte Bonadea; einen Augenblick lang fand sie wieder die Kraft zum Gekränktsein, und ihr Herz stieg bis in den Kopf, denn es schien ihr, daß die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Ulrich ein so derbes und, wie sie dachte, zügelloses Getränk anbot, eine lieblose Anspielung enthalte.
    Aber Ulrich sagte freundlich: »Es wird dir gut tun; alle Frauen, die große Politik gemacht haben, haben auch Whisky getrunken.« Denn Bonadea hatte, um sich bei Ulrich wieder einzuführen, gesagt, daß sie die große patriotische Aktion bewundere und gerne dabei mithelfen möchte.
    Das war ihr Plan. Sie glaubte immer mehreres gleichzeitig, und halbe Wahrheiten erleichterten ihr das Lügen.
    Der Whisky war dünngoldig und wärmte wie Maisonne.
    Bonadea hatte das Gefühl, siebzig Jahre alt zu sein und vor einem Haus auf einer Gartenbank zu sitzen. Sie wurde alt. Ihre Kinder wuchsen heran. Der Älteste war jetzt schon zwölf Jahre. Es war ohne Zweifel schändlich, einem Mann, den man nicht einmal genau kannte, in eine Wohnung zu folgen, bloß weil er Augen hatte, mit denen er einen ansah wie ein Mann hinter einem Fenster. Man unterscheidet ganz gut, dachte sie, Einzelheiten an diesem Menschen, die einem mißfallen und eine Warnung sein könnten; man könnte überhaupt – wenn einen nur etwas in solchen Augenblicken anhalten würde! – schamübergossen und vielleicht sogar zornflammend abbrechen; aber weil es nicht geschieht, wächst dieser Mann immer leidenschaftlicher in seine Rolle hinein. Und man selbst fühlt sich dabei ganz deutlich wie eine von künstlichem Licht angestrahlte Kulisse; es sind Bühnenaugen, ein Bühnenschnurrbart, sich

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