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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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lange Zeit erhebt, ohne daß mit ihr etwas geschieht, schläft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschläft, wenn er lange Zeit etwas hochhält, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie Soldaten im Sommer auf einer Parade; wenn sie zu lange warten müssen, fallen sie einfach ohnmächtig um. Da Ulrich ungefähr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr den Entwurf seiner Lebensauffassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem zweiunddreißigsten Jahr nicht mehr ganz aufrichtig vor. Er hatte seine Gedanken nicht weitergebildet, und abgesehen von einem ungewissen und spannenden Gefühl, wie man es bei geschlossenen Augen hat, wenn man etwas erwartet, zeigte sich in ihm auch nicht viel von persönlicher Bewegung, seit die Tage der zitternden ersten Erkenntnisse vorbei waren. Wahrscheinlich war es trotzdem eine unterirdische Bewegung von solcher Art, was ihn mit der Zeit in der wissenschaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in sie seinen ganzen Willen zu setzen. Er geriet durch sie in einen eigentümlichen Zwiespalt. Man darf nicht vergessen, daß die exakte Geistesverfassung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige; denn sie würde sich »Ihm« unterwerfen, sobald er geruht, sich ihr unter den Bedingungen zu zeigen, die sie für die Anerkennung seiner Tatsächlichkeit vorschreibt, wogegen unsere schönen Geister, wenn Er sich äußerte, nur finden würden, daß sein Talent nicht ursprünglich und sein Weltbild nicht verständlich genug seien, um ihn auf eine Stufe mit wirklich gottbegnadeten Begabungen zu stellen. So leicht wie irgendwer von dieser Gattung konnte sich Ulrich also nicht unbestimmten Ahnungen hingeben, aber andererseits konnte er sich ebensowenig verhehlen, daß er in lauter Exaktheit jahrelang bloß gegen sich selbst gelebt habe, und er wünschte, daß etwas Unvorhergesehenes mit ihm geschehen möge, denn als er das tat, was er etwas spöttisch seinen »Urlaub vom Leben« nannte, besaß er in der einen wie in der anderen Richtung nichts, was ihm Frieden gab.
    Vielleicht könnte man zu seiner Entschuldigung anführen, daß das Leben in gewissen Jahren unglaublich schnell entflieht. Aber der Tag, wo man beginnen muß, seinen letzten Willen zu leben, ehe man dessen Rest hinterläßt, liegt weit voran und läßt sich nicht verschieben. Das war ihm drohend klar geworden, seit fast ein halbes Jahr vergangen war, ohne daß sich etwas änderte. Während er sich in der kleinen und närrischen Tätigkeit, die er übernommen hatte, hin und her bewegen ließ, sprach, gerne zuviel sprach, mit der verzweifelten Beharrlichkeit eines Fischers lebte, der seine Netze in einen leeren Fluß senkt, indes er nichts tat, was der Person entsprach, die er immerhin bedeutete, und es mit Absicht nicht tat, wartete er. Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeichnet, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher. Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen. Sind große Prüfungen das Vorrecht großer Naturen? Er würde gerne daran geglaubt haben, aber es ist nicht richtig, denn auch die simpelsten nervösen Naturen haben ihre Krisen. So blieb ihm eigentlich nur in der großen Erschütterung jener Rest von Unerschütterlichkeit übrig, den alle Helden und Verbrecher besitzen, es ist nicht Mut, es ist nicht Wille, es ist keine Zuversicht, sondern einfach ein zähes Festhalten an sich, das sich so schwer austreiben läßt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz zerfleischt ist.
    Will man sich vorstellen, wie solch ein Mensch lebt, wenn er allein ist, so kann höchstens erzählt werden, daß in der Nacht die erhellten Fensterscheiben ins Zimmer schauen, und die Gedanken, nachdem sie gebraucht sind, herumsitzen wie die Klienten im Vorzimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind. Oder vielleicht, daß Ulrich einmal in solcher Nacht die Fenster öffnete und in die schlangenkahlen Baumstämme blickte, deren Windungen zwischen den Schneedecken der Wipfel und des Bodens seltsam schwarz und glatt dastanden, und plötzlich Lust bekam, im Schlafanzug, wie er war, in den Garten hinunterzugehn; er wollte die Kälte in den Haaren fühlen. Als er unten war, schaltete er das Licht aus, um nicht vor der erleuchteten Türe zu stehn, und nur aus seinem Arbeitszimmer ragte ein Lichtdach in den

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