Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
sondern auch ganz nüchtern in der folgenden Form: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? Solche Beispiele, die »dazwischen« liegen, liefert aber jeder moralische Satz, etwa gleich der bekannte und einfache: Du sollst nicht töten. Man sieht auf den ersten Blick, daß er weder eine Wahrheit ist noch eine Subjektivität. Man weiß, daß wir uns in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und sehr zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr großen Zahl von Fällen dritter Art, so in der Phantasie, in den Wünschen, in den Theaterstücken oder beim Genuß der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung. Man nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zuweilen eine Forderung. Man hat diese Forderung an den Dogmen der Religion und an denen des Gesetzes befestigt und ihr dadurch den Charakter einer abgeleiteten Wahrheit gegeben, aber die Romanschriftsteller erzählen uns von den Ausnahmen, angefangen beim Opfer Abrahams bis zur jüngsten schönen Frau, die ihren Geliebten niedergeschossen hat, und lösen es wieder in Subjektivität auf. Man kann sich also entweder an den Pflöcken festhalten oder zwischen ihnen von der breiten Welle hin und her tragen lassen; aber mit welchem Gefühl!? Das Gefühl des Menschen für diesen Satz ist ein Gemisch von vernageltem Gehorchen (einschließlich der »gesunden Natur«, die sich sträubt, an so etwas auch nur zu denken, aber, durch Alkohol oder Leidenschaft nur ein wenig von ihrem Platz verrückt, es sofort tut) und gedankenlosem Plätschern in einer Woge voll Möglichkeiten. Soll dieser Satz wirklich nur so verstanden werden? Ulrich fühlte, daß ein Mann, der etwas mit ganzer Seele tun möchte, auf diese Weise weder weiß, ob er es tun, noch ob er es unterlassen soll. Und ihm ahnte doch, daß man es aus dem ganzen Wesen heraus tun oder lassen könnte. Ein Einfall oder ein Verbot sagten ihm gar nichts. Die Anknüpfung an ein Gesetz nach oben oder innen erregte die Kritik seines Verstandes, ja mehr als das, es lag auch eine Entwertung in diesem Bedürfnis, den seiner selbst gewissen Augenblick durch eine Abstammung zu nobilitieren. Bei alledem blieb seine Brust stumm, und nur sein Kopf sprach; aber er fühlte, daß in einer anderen Weise seine Entscheidung übereinfallen könnte mit seinem Glück. Er könnte glücklich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestellten Forderung sein. Das, was er in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das er betreten hatte. Er begriff, daß alles darin schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise; es war ein »ganz Begreifen« und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch widervernünftig vor, sondern ergriff ihn, als wäre ihm eine leise selige Übertreibung in die Brust gefallen.
Und so wenig man aus den echten Teilen eines Essays eine Wahrheit machen kann, vermag man aus einem solchen Zustand eine Überzeugung zu gewinnen; wenigstens nicht, ohne ihn aufzugeben, so wie ein Liebender die Liebe verlassen muß, um sie zu beschreiben. Die grenzenlose Rührung, die ihn zuweilen untätig bewegte, widersprach dem Tätigkeitstrieb Ulrichs, der auf Grenzen und Formen drang. Nun ist es ja wahrscheinlich richtig und natürlich, erst wissen zu wollen, ehe man das Gefühl sprechen läßt, und unwillkürlich stellte er sich vor, was er dereinst finden wollte, werde, wenn es auch nicht Wahrheit sei, dieser doch an Festigkeit nichts nachgeben; aber in seinem besonderen Fall ähnelte er dadurch einem Mann, der sich ein Rüstzeug zusammenstellt, indes ihm darüber die Absicht erstirbt. Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens. Aber wenn man eine Forderung
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