Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
geradeso wie die Gefängnisse oder das Militär; man muß, wenn sie da ist, auch jemand hineinstecken. Also nimmt man, mit einem gewissen Automatismus, der solchen sozialen Bedürfnissen eignet, immer den dazu, der gerade an der Reihe ist, und erweist ihm die Ehren, die zur Verleihung reif sind. Aber diese Verehrung ist nicht ganz reell; auf ihrem Grunde gähnt die allgemein bekannte Überzeugung, daß eigentlich doch kein einziger sie verdient, und es läßt sich schwer unterscheiden, ob sich der Mund aus Begeisterung oder zum Gähnen öffnet. Es hat etwas von Totenverehrung an sich, wenn heute ein Mann genial genannt wird, mit dem stillschweigenden Zusatz, daß es das gar nicht mehr gibt, und hat etwas von jener hysterischen Liebe, die ein großes Spektakel aus keiner anderen Ursache aufführt, als weil ihr eigentlich das Gefühl fehlt.
Ein solcher Zustand ist begreiflicherweise nicht angenehm für empfindsame Geister, und sie suchen sich seiner auf verschiedene Art zu entledigen. Die einen werden aus Verzweiflung wohlhabend, indem sie den Bedarf benützen lernen, der nun einmal nicht nur nach großen Geistern, sondern auch nach wilden Männern, geistvollen Romanciers, schwellenden Naturkindern und Führern der neuen Generation besteht; die anderen tragen eine unsichtbare Königskrone auf dem Haupte, die sie unter gar keinen Umständen ablegen, und versichern erbittert bescheiden, daß sie über den Wert des von ihnen Geschaffenen erst in drei bis zehn Jahrhunderten urteilen lassen wollen; alle aber empfinden es als eine furchtbare Tragik des deutschen Volks, daß die wirklich Großen niemals sein lebender Kulturbesitz werden, da sie ihm zu weit voraus sind. Es muß jedoch betont werden, daß bis hieher von den sogenannten schönen Geistern gesprochen worden ist, denn es gibt in den Beziehungen des Geistes zur Welt einen sehr bemerkenswerten Unterschied. Während der schöne Geist in der gleichen Weise wie Goethe und Michelangelo, Napoleon und Luther bewundert sein will, weiß heute kaum noch irgendwer den Namen des Mannes, der den Menschen den unsagbaren Segen der Narkose geschenkt hat, niemand forscht im Leben von Gauß, Euler oder Maxwell nach einer Frau von Stein, und die wenigsten kümmert es, wo Lavoisier und Cardanus geboren wurden und gestorben sind. Statt dessen lernt man, wie ihre Gedanken und Erfindungen durch die Gedanken und Erfindungen anderer, ebenso uninteressanter Personen weiter entwickelt worden sind, und beschäftigt sich unausgesetzt mit ihrer Leistung, die in anderen weiterlebt, nachdem das kurze Feuer der Person längst schon abgebrannt ist. Man staunt im ersten Augenblick, wenn man wahrnimmt, wie scharf dieser Unterschied zwei Weisen menschlichen Verhaltens voneinander abteilt, aber alsbald melden sich die Gegenbeispiele, und er will als die natürlichste aller Grenzen erscheinen. Vertraute Gewohnheit versichert uns, es sei die Grenze zwischen Person und Arbeit, zwischen Größe des Menschen und der einer Sache, zwischen Bildung und Wissen, Humanität und Natur. Arbeit und industriöses Genie vermehren nicht die moralische Größe, das Mannsein unter den Augen des Himmels, die unzerlegbare Lehre des Lebens, die sich nur in Beispielen weitererbt, von Staatsmännern, Helden, Heiligen, Sängern, allerdings auch von Filmschauspielern; eben jene große, irrationale Macht, an der sich auch der Dichter teilhaben fühlt, solange er an sein Wort glaubt und daran festhält, daß aus ihm, je nach seinen Lebensverhältnissen, die Stimme des Inneren, des Blutes, des Herzens, der Nation, Europas oder der Menschheit spricht. Es ist das geheimnisvolle Ganze, als dessen Werkzeug er sich fühlt, während die anderen bloß im Begreiflichen wühlen, und an diese Sendung muß man glauben, ehe man sie sehen lernen kann! Was uns dessen versichert, ist zweifellos eine Stimme der Wahrheit, aber bleibt nicht eine Sonderbarkeit an dieser Wahrheit hängen? Denn dort, wo man weniger auf die Person als auf die Sache sieht, ist merkwürdigerweise immer von frischem eine neue Person da, die die Sache vorwärts führt; wogegen sich dort, wo man auf die Person achtet, nach Erreichung einer gewissen Höhe das Gefühl einstellt, es sei keine ausreichende Person mehr da und das wahrhaft Große gehöre der Vergangenheit an!?
Sie waren lauter Ganze, die sich bei Diotima versammelt hatten, und das war viel auf einmal. Dichten und Denken, jedem Menschen so natürlich wie einer jungen Ente das Schwimmen, sie übten es als Beruf
Weitere Kostenlose Bücher