Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
plötzlich ins Gesicht. Ulrichs Schweigen ernüchterte sie und löste den Gedanken, der sie gefangen gehalten. Sie lächelte verlegen und schloß mit raschen Worten: »Mein Vater? Er hat sich augenblicklich aufgerichtet. Ich habe nicht sehen können, was in seinem Gesicht vorging; ich denke, es wird wohl Verlegenheit gewesen sein. Vielleicht Dankbarkeit. Ich hatte ihn doch im letzten Augenblick erlöst. Du mußt denken: ein alter Mann, und ein junges Mädchen hat die Kraft dazu! Ich muß ihm merkwürdig vorgekommen sein, denn er hat mir ganz zart die Hand gedrückt und mit der anderen zweimal über den Kopf gestreichelt, dann ist er fortgegangen, ohne etwas zu sagen. Also du wirst für ihn tun, was du kannst?! Schließlich mußte ich dir das aber auch erklären.«
Knapp und korrekt, in einem Schneiderkleid, das sie nur trug, wenn sie in die Stadt kam, stand sie da, um fortzugehen, und streckte die Hand zum Gruß aus.
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Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen
VON IHREM BRIEF an Graf Leinsdorf und von ihrer Aufforderung, daß Ulrich Moosbrugger retten solle, hatte Clarisse kein Wort gesagt; sie schien das alles vergessen zu haben. Aber auch Ulrich kam nicht so bald dazu, sich wieder daran zu erinnern. Denn endlich war Diotima mit allen Vorbereitungen so weit, daß innerhalb der »Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« der besondere »Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« einberufen werden konnte, dessen Leitung Diotima sich persönlich vorbehalten hatte. Se. Erlaucht hatte selbst die Einladung verfaßt, Tuzzi hatte sie korrigiert, und Arnheim hatte seine Verbesserungen von Diotima zu sehen bekommen, ehe sie genehmigt wurden. Trotzdem kam alles darin vor, was den Geist Sr. Erlaucht beschäftigte. »Was uns zu dieser Zusammenkunft führt,« – stand in dem Schreiben – »ist die Übereinstimmung in der Frage, daß eine machtvolle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben dürfe, sondern eine weit vorausblickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordere.« Es folgten dann das »hochseltene Fest der siebzigjährigen segensreichen Thronbesteigung«, die »dankbar gescharten« Völker, der Friedenskaiser, die mangelnde politische Reife, das weltösterreichische Jahr, und schließlich kam die Mahnung an »Besitz und Bildung«, das alles zu einer glanzvollen Kundgebung des »wahren« Österreichertums zu gestalten, aber recht vorsichtig zu erwägen.
Aus Diotimas Listen waren die Gruppen Kunst, Literatur und Wissenschaft herausgehoben und durch umfassende Bemühungen sorgfältig ergänzt worden, während andererseits von den Personen, die dem Ereignis beiwohnen durften, ohne daß man Tätigkeit von ihnen erwartete, nach strengster Siebung nur eine ganz kleine Anzahl übrig geblieben war; dennoch hob sich die Zahl der Eingeladenen so hoch, daß von einem regelrechten Tafeln am grünen Tisch nicht die Rede sein konnte und die lockere Form von Empfangabenden mit kaltem Büfett gewählt werden mußte. Man saß und stand, wie man es möglich machen konnte, und Diotimas Räume glichen einem geistigen Heerlager, das mit belegten Broten, Torten, Weinen, Likören und Tee in solchen Maßen verpflegt wurde, wie sie nur durch besondere budgetäre Zugeständnisse möglich wurden, die Herr Tuzzi seiner Gattin gemacht hatte; widerspruchslos, wie hinzugefügt werden muß, woraus sich schließen läßt, daß er darauf aus war, sich neuer, geistiger diplomatischen Methoden zu bedienen.
Die gesellschaftliche Bewältigung dieses Auflaufs stellte große Anforderungen an Diotima, und sie würde vielleicht an manchem Anstoß genommen haben, hätte ihr Kopf nicht einer prächtigen Fruchtschale geglichen, aus deren Überfülle die Worte beständig über den Rand fielen; Worte, mit denen die Hausfrau jeden Erschienenen begrüßte und durch genaue Kenntnis seines letzten Werks entzückte. Die Vorbereitungen dazu waren außerordentlich gewesen und konnten nur mit Hilfe Arnheims bewältigt werden, der ihr seinen Privatsekretär zur Verfügung gestellt hatte, um das Material zu ordnen und auszugsweise die wichtigsten
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