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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ausfüllen lasse, bis er endlich auf festem Boden anlange, und begnügte sich mit einer viel gemeineren Feststellung: er ergründete einfach, wie schnell ein solcher Körper fällt, welche Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindigkeitszuwüchse er erfährt. Die katholische Kirche hat einen schweren Fehler begangen, indem sie diesen Mann mit dem Tode bedrohte und zum Widerruf zwang, statt ihn ohne viel Federlesens umzubringen; denn aus seiner und seiner Geistesverwandten Art, die Dinge anzusehen, sind danach – binnen kürzester Zeit, wenn man historische Zeitmaße anlegt, – die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die moralische Verderbnis der Gegenwart entstanden, gegen die sie nicht mehr aufkommen kann. Sie hat diesen Fehler wahrscheinlich aus zu großer Klugheit begangen, denn Galilei war ja nicht nur der Entdecker des Fallgesetzes und der Erdbewegung, sondern auch ein Erfinder, für den sich, wie man heute sagen würde, das Großkapital interessierte, und außerdem war er nicht der einzige, der damals von dem neuen Geist ergriffen wurde; im Gegenteil, die historischen Berichte zeigen, daß sich die Nüchternheit, von der er beseelt war, weit und ungestüm wie eine Ansteckung ausbreitete, und so anstößig das heute klingt, jemand von Nüchternheit beseelt zu nennen, wo wir davon schon zu viel zu haben glauben, damals muß das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge nach allerhand Zeugnissen geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein! Aber wenn man sich fragt, was der Menschheit nun eigentlich eingefallen sei, sich so zu verändern, so ist die Antwort, sie tat damit nichts anderes, als jedes vernünftige Kind tut, wenn es zu früh versucht hat, zu laufen; sie setzte sich auf die Erde und berührte diese mit einem verläßlichen und wenig edlen Körperteil, es muß gesagt werden: sie tat es mit eben jenem, auf dem man sitzt. Denn das Merkwürdige ist, daß sich die Erde dafür so ungemein empfänglich gezeigt hat und seit dieser Berührung sich Erfindungen, Bequemlichkeiten und Erkenntnisse in einer Fülle entlocken läßt, die ans Wunder grenzt.
    Man könnte nach dieser Vorgeschichte nicht ganz mit Unrecht meinen, es sei das Wunder des Antichrist, in dem wir uns mitten darin befinden; denn das gebrauchte Berührungsgleichnis ist nicht nur in der Richtung der Verläßlichkeit zu deuten, sondern ebensosehr in der Richtung des Anstandslosen und Verpönten. Und wirklich haben, ehe geistige Menschen ihre Lust an den Tatsachen entdeckten, nur Krieger, Jäger und Kaufleute, gerade also listige und gewalttätige Naturen, diese besessen. Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, sondern nur den Wunsch, den Gegner auf dem kürzesten und tatsächlichsten Wege umzubringen, da ist jedermann Positivist; und ebenso wenig wäre es im Geschäft eine Tugend, sich etwas vormachen zu lassen, statt aufs Feste zu gehn, wobei der Gewinn letzten Endes eine psychologische und den Umständen entspringende Überwältigung des anderen bedeutet. Sieht man andererseits zu, welche Eigenschaften es sind, die zu Entdeckungen führen, so gewahrt man Freiheit von übernommener Rücksicht und Hemmung, Mut, ebensoviel Unternehmungs- wie Zerstörungslust, Ausschluß moralischer Überlegungen, geduldiges Feilschen um den kleinsten Vorteil, zähes Warten auf dem Weg zum Ziel, falls es sein muß, und eine Verehrung für Maß und Zahl, die der schärfste Ausdruck des Mißtrauens gegen alles Ungewisse ist; mit anderen Worten, man erblickt nichts anderes als eben die alten Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster, die hier bloß ins Geistige übertragen und in Tugenden umgedeutet worden sind. Und sie sind damit zwar dem Streben nach persönlichem und verhältnismäßig gemeinem Vorteil entrückt, aber das Element des Urbösen, wie man es nennen könnte, ist ihnen auch bei dieser Verwandlung nicht verlorengegangen, denn es ist scheinbar unzerstörbar und ewig, wenigstens so ewig wie alles menschlich Hohe, da es in nichts geringerem und anderem als der Lust besteht, dieser Höhe ein Bein zu stellen und sie auf die Nase fallen zu sehn. Wer kennt nicht die boshafte Verlockung, die bei der Betrachtung eines schönglasierten üppigen Topfes in dem Gedanken liegt, daß man ihn mit einem Stockhieb in hundert Scherben schlagen könnte? Zum Heroismus der Bitterkeit gesteigert, daß man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und

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