Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
hätte. Mit einer zusammenlegbaren Staffelei, die er hinter den Sattel schnallte, ist er von morgens bis abends umhergeritten, ohne einen Strich zu malen, und wenn er zu Hause blieb, rührte er auch keinen Pinsel an. Du mußt wissen, daß er sonst wie eine Maschine malt, aber damals traf ich ihn oft, wie er in einem der großen, leeren Säle hinter einem Buch saß und hatte es nicht geöffnet. So hat er manchmal stundenlang gebrütet, dann ist er aufgestanden, und in einem anderen Zimmer oder im Garten war es das gleiche; mitunter den ganzen Tag lang. Schließlich war er ein alter Mann, und die Jugend hatte ihn im Stich gelassen; nicht, das läßt sich begreifen?! Und ich denke mir, das Bild, wie er Lucy und mich oft gesehen hat, als zwei Freundinnen, die einander den Arm um den Leib legen und vertraut miteinander plaudern, muß in ihm damals aufgegangen sein, – wie ein wilder Samen. Vielleicht hat er auch davon gewußt, daß Lucy immer zu mir in den Turm gekommen ist. Kurz, einmal, so gegen elf Uhr nachts, alle Lichter waren im Schloß schon ausgelöscht, war er da! Du, das war etwas!« Clarisse wurde jetzt lebhaft von der Bedeutung ihrer eigenen Geschichte hingerissen. »Du hörst dieses Tasten und Scharren auf der Treppe und weißt nicht, was das ist; hörst dann das ungeschickte Drücken an der Klinke und das abenteuerliche Aufgehen der Tür…«
»Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
»Das ist das Sonderbare. Ich habe vom ersten Ton an gewußt, wer er ist. Er muß reglos in der Tür stehen geblieben sein, denn man hörte eine ganze Weile nichts. Er war wahrscheinlich auch erschrocken. Dann zog er vorsichtig die Türe zu und hat mich leise angerufen. Ich bin wie durch alle Sphären gesaust. Ich habe ihm keineswegs antworten wollen, aber das ist das Sonderbare: ganz aus mir heraus, als wäre ich ein tiefer Raum, ist ein Laut gekommen, der wie ein Winseln war. Kennst du das?«
»Nein. Erzähl weiter!«
»Nun einfach, und im nächsten Augenblick hat er sich mit unendlicher Verzweiflung an mir festgehalten; er ist beinahe auf mein Bett gefallen, und sein Kopf ist neben dem meinen in den Polstern gelegen.«
»Tränen?«
»Zuckende Trockenheit! Ein alter, verlassener Körper! Ich habe das augenblicklich verstanden. Oh, ich sage dir, wenn man später sagen könnte, was man in solchen Augenblicken gedacht hat, das wäre etwas ganz Großes! Ich glaube, daß ihn wegen des Versäumten tolle Wut gegen alle Sittsamkeit gepackt hatte. Ich merke also mit einemmal, daß er wieder aufwacht, und weiß sofort, obgleich es stockfinster war, daß er jetzt ganz zusammengekrampft ist von rücksichtslosem Hunger nach mir. Ich weiß, jetzt gibt es keine Schonung und Rücksicht; seit meinem Stöhnen war es noch immer ganz still; mein Körper war glühend trocken, und seiner war wie ein Papier, das man an den Rand des Feuers legt. Ordentlich leicht ist er geworden; ich habe gefühlt, wie sein Arm sich an meinem Körper hinabschlängelt und von meiner Schulter loslöst. Und da wollte ich dich etwas fragen. Deshalb bin ich gekommen –«
Clarisse unterbrach sich.
»Was? Du hast doch nichts gefragt!« half ihr Ulrich nach kurzer Pause.
»Nein. Ich muß vorher noch etwas anderes sagen: Ich habe mich bei dem Gedanken, daß er meine Reglosigkeit für ein Zeichen des Einverständnisses halten müsse, verabscheut; aber ich bin ganz ratlos liegengeblieben, eine steinerne Angst hat auf mir gelastet. Wie denkst du darüber?«
»Ich kann da gar nichts sagen.«
»Mit einer Hand hat er mich immerzu im Gesicht gestreichelt, die andere ist gewandert. Zitternd, mit gespielter Harmlosigkeit, weißt du; über meine Brust wie ein Kuß hinweg, dann, als wartete sie und lauschte auf Antwort. Und zuletzt wollte sie – nun du verstehst wohl, und sein Gesicht suchte zugleich das meine. Aber da habe ich mich doch mit letzter Kraft ihm entwunden und zur Seite gedreht; und wieder ist dabei dieser Laut, den ich sonst nicht an mir kenne, so zwischen Bitte und Stöhnen liegt er, aus meiner Brust gekommen. Ich habe nämlich ein Muttermal, ein schwarzes Medaillon –«
»Und wie hat sich dein Vater verhalten?« unterbrach sie Ulrich kühl.
Aber Clarisse ließ sich nicht unterbrechen. »Hier!« Sie lächelte gespannt und zeigte durch das Kleid eine Stelle einwärts der Hüfte. »Bis hieher ist er gekommen, hier ist das Medaillon. Dieses Medaillon besitzt eine wunderbare Kraft oder es hat damit eine sonderbare Bewandtnis!«
Das Blut strömte ihr
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