Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Bekannten oder näheren Kollegen sah und ansprechen konnte. Man hatte das Gefühl, daß man beim Nachhausegehn, nach Verlassen des Tors ein paarmal probeweise fest auftreten werde. Aber ganz schön war die Veranstaltung doch. Solche allgemeinen Unternehmungen sind freilich etwas, das nie einen rechten Inhalt gewinnt, wie überhaupt alle allgemeinsten und höchsten Vorstellungen; schon Hund können Sie sich nicht vorstellen, das ist nur eine Anweisung auf bestimmte Hunde und Hundeeigenschaften, und Patriotismus oder die schönste vaterländischeste Idee können Sie sich erst recht nicht vorstellen. Aber wenn das auch keinen Inhalt hat, einen Sinn hat es ja doch, und es ist sicher gut, von Zeit zu Zeit diesen Sinn zu wecken! So sprachen die meisten zueinander, allerdings mehr im schweigsam Unbewußten; Diotima aber, die noch immer im Hauptempfangszimmer stand und Nachzügler durch eine Anrede auszeichnete, hörte erstaunt und undeutlich, daß sich rings um sie lebhafte Gespräche anknüpften, aus denen, wenn nicht alles täuschte, nicht selten sogar Erörterungen über den Unterschied von böhmisch und bayrisch Bier oder über Verlegerhonorare an ihr Ohr schlugen.
Es war schade, daß sie ihrer Gesellschaft nicht auch von der Straße aus zusehen konnte. Von dort sah sie wunderbar aus. Das Licht schimmerte hell durch die Vorhänge der hohen Fensterfront, vermehrt durch den Schein der Autorität und Vornehmheit, den die wartenden Wagen dazutaten, und durch die Blicke der Gaffer, die im Vorbeigehen stehenblieben und eine Weile hinaufsahen, ohne daß sie recht wußten, warum. Es hätte Diotima gefreut, wenn sie das wahrgenommen haben würde. Es standen immer Leute in der Halbhelle, die das Fest auf die Straße streute, und hinter ihren Rücken begann die große Dunkelheit, die in einiger Entfernung rasch undurchdringlich wurde.
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Leo Fischels Tochter Gerda
IN DIESEM GETRIEBE fand Ulrich lange nicht Zeit, das Versprechen, das er Direktor Fischel gegeben hatte, einzulösen und dessen Familie zu besuchen. Ja, recht gesagt, er fand die Zeit überhaupt nicht, ehe ihn nicht ein unerwartetes Ereignis traf; es war der Besuch von Fischels Gattin Klementine.
Sie hatte sich telefonisch angemeldet, und Ulrich sah ihr nicht ohne Besorgnis entgegen. Er hatte in ihrem Haus zuletzt vor drei Jahren verkehrt, als er einige Monate in dieser Stadt zubrachte; diesmal war er aber bloß ein einzigesmal dahin gekommen, weil er eine vergangene Liebelei nicht aufrühren wollte und Angst vor der mütterlichen Enttäuschung Frau Klementinens hatte. Allein Klementine Fischel war eine Frau mit »großdenkendem Herzen«, und in den täglichen Kleinkämpfen mit ihrem Gatten Leo hatte sie so wenig Gelegenheit, davon Gebrauch zu machen, daß für besondere Fälle, die leider selten eintraten, eine geradezu heldenhafte Gefühlshöhe zu ihrer Verfügung stand. Immerhin war die magere Frau mit dem strengen, etwas vergrämten Gesicht ein wenig verlegen, als sie sich Ulrich gegenüber befand und ihn um eine Unterredung unter vier Augen bat, obgleich sie ohnedies allein waren. – Aber er sei der einzige, auf dessen Meinung Gerda noch hören würde, sagte sie, und er möge ihre Bitte nicht mißverstehen, fügte sie nachträglich hinzu.
Ulrich kannte die Verhältnisse im Hause Fischel. Nicht nur lagen Vater und Mutter beständig im Krieg, auch Gerda, die schon dreiundzwanzigjährige Tochter, hatte sich mit einem Schwarm sonderbarer junger Leute umgeben, die den zähneknirschenden Papa Leo sehr gegen seinen Willen zum Mäzen und Förderer ihres »Neugeistes« machten, da man nirgends so bequem zusammenkommen konnte wie bei ihm. –Gerda sei so nervös und blutarm und rege sich gleich so fürchterlich auf, wenn man versuche, diesen Verkehr einzuschränken, – berichtete Frau Klementine – und es seien schließlich bloß dumme Jungen ohne Lebensart, aber ihr geflissentlich zur Schau getragener mystischer Antisemitismus sei nicht nur taktlos, sondern auch ein Zeichen von innerer Roheit. – Nein, fügte sie hinzu, sie wolle nicht über den Antisemitismus klagen, der sei eine Zeiterscheinung, und darin müsse man nun einmal resigniert sein; man könne sogar zugeben, daß in mancher Hinsicht etwas daran sein möge. – Klementine machte eine Pause und würde mit dem Taschentuch eine Träne getrocknet haben, hätte sie nicht einen Schleier getragen; aber so unterließ sie es, die Träne zu weinen, und begnügte sich, ihr weißes Tüchlein aus dem Handtäschchen
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