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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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menschenfernen Menschen nur noch spärlich hervorbringen.
    Gerda, die ein kluges Mädchen war, empfand heimlich nicht wenig Mißtrauen gegen diese übertriebenen Anschauungen, aber sie mißtraute auch diesem Mißtrauen, in dem sie ein Erbteil der elterlichen Vernunft zu erkennen glaubte. So unabhängig sie sich gab, war sie ängstlich bemüht, ihren Eltern nicht zu gehorchen, und litt unter der Bangigkeit, daß ihre Abstammung sie hindern könnte, Hansens Gedanken zu folgen. Sie regte sich gegen die Tabugrenzen der Moral des sogenannten guten Hauses, den anmaßenden und erstickenden Eingriff des elterlichen Verfügungsrechts in die Persönlichkeit aus dem Innersten auf, indessen Hans, der aus »gar keinem Haus« stammte, wie ihre Mutter das ausdrückte, weit weniger litt; er hatte sich aus dem Kreis der Gefährten als der »Seelenführer« Gerdas herausgeschält, sprach leidenschaftlich mit der gleichaltrigen Freundin und versuchte, sie mit seinen von Küssen begleiteten großen Auseinandersetzungen in die »Region der Unbedingtheit« zu entrücken, aber praktisch fand er sich mit der Bedingtheit des Hauses Fischel ganz geschickt ab, sofern man ihm nur erlaubte, es »aus Gesinnung« abzulehnen, was freilich fortwährend Anlaß zu Krach mit Papa Leo gab.
    »Liebe Gerda,« sagte Ulrich nach einer Weile »Ihre Freunde quälen Sie mit Ihrem Vater und sind die schrecklichsten Erpresser, die ich kenne!«
    Gerda wurde blaß und rot. »Sie selbst sind kein junger Mensch mehr,« entgegnete sie »Sie denken anders als wir!« Sie wußte, daß sie Ulrichs Eitelkeit getroffen hatte, und fügte versöhnlich hinzu: »Ich stelle mir unter Liebe überhaupt nicht riesig viel vor. Vielleicht verliere ich meine Zeit mit Hans, wie Sie sagen; vielleicht muß ich überhaupt verzichten und werde nie jemand so gern haben, daß ich ihm jede Falte meiner Seele im Denken und Fühlen, im Arbeiten und Träumen öffnen kann: Ich stelle es mir nicht einmal so schrecklich vor!«
    »Sie sind so altklug, Gerda, wenn Sie wie Ihre Freunde reden!« unterbrach sie Ulrich.
    Gerda wurde heftig. »Wenn ich mit meinen Freunden rede,« rief sie aus »so gehen die Gedanken von einem zum andern, und wir wissen, daß wir in unserm Volk leben und sprechen: verstehen Sie das denn überhaupt? Wir stehen zwischen ungezählten Artgenossen und fühlen sie; das ist in einer Weise sinnkörperlich, die Sie bestimmt – nein, die Sie sich bestimmt nicht einmal vorstellen können; weil Sie immer nur nach einem Menschen begehrt haben; Sie denken wie ein Raubtier!«
    Warum wie ein Raubtier? Der Satz, wie er in der Luft war, verräterisch, kam ihr selbst unsinnig vor, und sie schämte sich ihrer Augen, die sich, angstvoll aufgerissen, auf Ulrich richteten.
    »Ich will nicht darauf antworten« sagte Ulrich sanft. »Ich will Ihnen, um das Gespräch zu ändern, lieber eine Geschichte erzählen. Kennen Sie« – und er zog sie mit seiner Hand, in der das Gelenk der ihren verschwand wie ein Kind zwischen Bergfelsen, näher an sich heran – »die aufregende Geschichte vom Mondeinfang? Sie wissen doch, daß unsere Erde früher mehrere Monde hatte? Und es gibt eine Theorie, die viele Anhänger besitzt, nach der solche Monde nicht das sind, wofür wir sie halten, erkaltete Himmelskörper, ähnlich der Erde selbst, sondern große, durch den Weltraum eilende Eiskugeln, die der Erde zu nahe gekommen sind und von ihr festgehalten werden. Unser Mond wäre die letzte davon. Sehen Sie ihn sich doch einmal an!« Gerda war ihm gefolgt und suchte im Sonnenhimmel den bleichen Mond. »Sieht er nicht aus wie eine Eisscheibe?« fragte Ulrich. »Das ist nicht Beleuchtung! Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es kommt, daß der Mann im Mond uns immer die gleiche Ansicht zukehrt? Er dreht sich nämlich nicht mehr, unser letzter Mond, er ist schon festgehalten! Sehen Sie, wenn der Mond einmal in die Gewalt der Erde gekommen ist, so kreist er ja nicht nur um sie, sondern sie zieht ihn auch immer näher an sich. Wir bemerken es bloß nicht, weil dieses Heranschrauben Jahrhunderttausende dauert oder noch länger. Aber es ist nicht wegzuleugnen, und in der Geschichte der Erde müssen Jahrtausende vorgekommen sein, wo die Monde vor diesem von ihr ganz nah herangezogen worden waren und mit einer ungeheuren Geschwindigkeit um die Erde rasten. Und so wie heute der Mond eine Flutwelle nach sich zieht, die einen Meter oder zwei hoch ist, so schleifte er damals einen Wasser- und Schlammberg so hoch

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