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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Gerda zu nichts Unrechtem zu verleiten und die Propaganda der deutschen mystischen Tat einzustellen. Sie hofften, ihm damit den Zauber des Verbotenen zu nehmen. Und Hans Sepp hatte in seiner Keuschheit (denn nur Sinnlichkeit will Besitz, ist aber jüdisch-kapitalistisch) das abverlangte Ehrenwort ruhig gegeben, worunter er jedoch nicht verstand, daß er heimlich öfter ins Haus kommen oder glühende Reden, begeisterte Händedrücke und selbst Küsse unterlassen werde, was alles noch zum natürlichen Leben befreundeter Seelen gehört; sondern nur die Propaganda für ein priester- und staatsloses Bündnis, die er bis dahin theoretisch betrieben hatte. Er hatte sein Ehrenwort umso lieber gegeben, als er die seelische Reife für die Tatung seiner Grundsätze bei sich und Gerda noch nicht für gekommen erachtete und ein Riegel gegen die Einflüsterungen der niederen Natur ganz nach seinem Sinne war.
    Aber die beiden jungen Leute litten natürlich unter diesem Zwang, der ihnen von außen eine Grenze setzte, ehe sie noch die innere, eigene gefunden hatten. Namentlich Gerda hätte sich diesen Eingriff ihrer Eltern nicht gefallen lassen, wäre sie nicht selbst unsicher gewesen; aber umso bitterer empfand sie ihn. Sie liebte ihren jungen Freund eigentlich nicht sehr; weit mehr war es der Gegensatz zu ihren Eltern, den sie in Anhänglichkeit an ihn übersetzte. Wäre Gerda einige Jahre später geboren worden, so wäre ihr Papa einer der reichsten Männer der Stadt gewesen, wenn auch gerade dann kein besonders gut angesehener, und ihre Mutter würde ihn wieder bewundert haben, ehe Gerda in die Lage hätte kommen können, die Streitigkeiten zwischen ihren Erzeugern als Zwiespalt in sich selbst zu empfinden. Sie würde sich dann wahrscheinlich mit Stolz als ein Rassenmischwesen gefühlt haben; wie die Verhältnisse aber in Wirklichkeit waren, lehnte sie sich gegen ihre Eltern und deren Lebensprobleme auf, wollte nicht von ihnen erblich belastet sein und war blond, frei, deutsch und kraftvoll, als hätte sie mit ihnen nichts zu tun. Das besaß, so gut es aussah, den Nachteil, daß sie nie dazu gekommen war, den Wurm, der an ihr fraß, ans Licht zu befördern. In ihrer häuslichen Umgebung wurde die Tatsache, daß es Nationalismus und Rassenideologie gebe, obgleich diese halb Europa in hysterische Gedanken verwickelten und sich gerade innerhalb der Fischelschen Mauern alles um sie drehte, als nicht vorhanden behandelt. Was Gerda davon wußte, war von außen, in den dunklen Formen des Gerüchts, als Andeutung und Übertreibung zu ihr gedrungen. Der Widerspruch, der darin lag, daß ihre Eltern sonst von allem, was viele Leute sagten, einen starken Eindruck empfingen, in diesem Fall aber eine sonderbare Ausnahme machten, hatte sich ihr früh eingeprägt; und weil ihr ein bestimmter und nüchterner Sinn in dieser gespenstischen Frage abging, setzte sie mit ihr namentlich in den Jahren der Halbreife alles in Verbindung, was ihr in ihrem Elternhaus unangenehm und unheimlich war.
    Eines Tags lernte sie den christgermanischen Kreis junger Leute kennen, dem Hans Sepp angehörte, und fühlte sich mit einemmal in ihrer wahren Heimat. Es wäre schwer zu sagen, woran diese jungen Menschen glaubten; sie bildeten eine jener unzähligen kleinen, unabgegrenzten freien Geistessekten, von denen die deutsche Jugend seit dem Zerfall des humanistischen Ideals wimmelt. Sie waren keine Rasseantisemiten, sondern Gegner der »jüdischen Gesinnung«, worunter sie Kapitalismus und Sozialismus, Wissenschaft, Vernunft, Elternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psychologie und Skepsis verstanden. Ihr Hauptlehrstück war das »Symbol«; soweit Ulrich folgen konnte, und er hatte ja einiges Verständnis für derlei Dinge, nannten sie Symbol die großen Gebilde der Gnade, durch die das Verwirrte und Verzwergte des Lebens, wie Hans Sepp sagte, klar und groß wird, die den Lärm der Sinne verdrängen und die Stirn in den Strömen der Jenseitigkeit netzen. Den Isenheimer Altar, die ägyptischen Pyramiden und Novalis nannten sie so; Beethoven und Stefan George ließen sie als Andeutungen gelten, und was ein Symbol, in nüchternen Worten ausgedrückt, sei, das sagten sie nicht, erstens weil sich Symbole in nüchternen Worten nicht ausdrücken lassen, zweitens weil Arier nicht nüchtern sein dürfen, weshalb ihnen im letzten Jahrhundert nur Andeutungen von Symbolen gelungen sind, und drittens weil es eben Jahrhunderte gibt, die den menschenfernen Augenblick der Gnade im

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