Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
jetzt wieder. Es war eine scheinbar ganz natürliche, aber zwecklose Vertraulichkeit, und sie fürchteten sich beide davor.
»Warum sind Sie so lang nicht bei uns gewesen?« fragte Gerda.
Ulrich sagte ihr geradezu, daß er den Eindruck gewonnen hätte, ihre Eltern wünschten keinen so intimen Verkehr ohne das Ziel einer Heirat.
»Ach, Mama,« sagte Gerda »Mama ist lächerlich. Wir dürfen also nicht Freunde sein, ohne daß man gleich daran denkt?! Aber Papa wünscht, daß Sie häufiger kommen; Sie sollen doch bei dieser großen Geschichte etwas Wichtiges geworden sein?«
Sie sprach das ganz offen aus, diese Dummheit der alten Leute; von dem natürlichen Bündnis überzeugt, das sie beide dagegen vereinte.
»Ich werde kommen,« entgegnete Ulrich »aber nun sagen Sie mir, Gerda ‚wohin wird uns das führen?«
Die Sache war die, daß sie einander nicht liebten. Sie hatten früher oft gemeinsam Tennis gespielt oder sich in Gesellschaft getroffen, waren miteinander gegangen, hatten Anteil aneinander genommen und auf diese Weise unmerklich die Grenze überschritten, die einen vertrauten Menschen, dem man sich zeigt, wie man in seiner Gefühlsunordnung ist, von allen unterscheidet, vor denen man sich fein macht. Sie waren unversehens so vertraut geworden wie zwei, die sich schon lange lieben, ja fast schon nicht mehr lieben, aber hatten sich dabei die Liebe erlassen. Sie zankten einander aus, so daß man glauben konnte, sie möchten einander nicht, aber das war zugleich Hindernis und Verbindung. Sie wußten, daß nur ein kleiner Funke fehlte, um daraus ein Feuer anzurichten. Wäre der Altersunterschied zwischen ihnen geringer oder Gerda eine verheiratete Frau gewesen, so wäre wahrscheinlich aus der Gelegenheit der Dieb und aus dem Diebstahl wenigstens nachträglich eine Leidenschaft geworden, denn man redet sich in die Liebe hinein wie in den Zorn, wenn man ihre Gebärden macht. Aber gerade weil sie das wußten, taten sie es nicht. Gerda war Mädchen geblieben und ärgerte sich leidenschaftlich darüber.
Statt auf Ulrichs Frage zu antworten, hatte sie sich im Zimmer zu schaffen gemacht, und plötzlich stand er neben ihr. Das war sehr unüberlegt, denn man kann nicht in so einem Augenblick nah einem Mädchen stehn und von einer Sache zu reden beginnen. Sie folgten dem Weg des geringsten Widerstandes, wie ein Bach, der, Hindernissen ausweichend, eine Wiese hinabfließt, und Ulrich legte seinen Arm um Gerdas Hüfte, mit den Spitzen der Finger bis an die Linie gelangend, der, abwärts schießend, das innere Band des Strumpfhalters zu folgen pflegt. Er wandte sich Gerdas Gesicht zu, das verstört und verschwitzt dreinsah, und küßte sie auf die Lippen. Dann standen sie da, ohne sich loslösen oder vereinigen zu können. Seine Fingerspitzen gerieten an das breite Gummiband ihres Strumpfhalters und ließen es leise einigemal gegen ihr Bein schlagen. Nun riß er sich los und wiederholte achselzuckend seine Frage: »Wohin soll uns das führen, Gerda?«
Gerda kämpfte ihre Aufregung nieder und sagte: »Muß es denn so sein?!«
Sie klingelte und ließ eine Erfrischung bringen; sie setzte das Haus in Betrieb.
»Erzählen Sie mir etwas von Hans!« bat Ulrich sanft, als sie saßen und ein neues Gespräch beginnen mußten. Gerda, die ihre Fassung noch nicht ganz wiedergefunden hatte, antwortete erst nicht, aber nach einer Weile sagte sie: »Sie sind ein eitler Mensch, Sie werden uns Jüngere nie verstehen!«
»Bange machen gilt nicht!« entgegnete Ulrich ableitend. »Ich glaube, Gerda, daß ich die Wissenschaft jetzt aufgebe. Ich gehe also zur neuen Generation über. Genügt es Ihnen, wenn ich beschwöre, daß das Wissen mit der Habsucht verwandt ist; einen schäbigen Spartrieb darstellt; ein überheblicher innerer Kapitalismus ist? Ich habe mehr Gefühl in mir, als Sie glauben. Aber ich möchte Sie vor allen Redereien beschützen, die bloß Worte sind!«
»Sie müssen Hans besser kennenlernen« erwiderte Gerda matt, aber fügte dann plötzlich heftig an: »Übrigens werden Sie es doch nie verstehn, daß man mit anderen Menschen zu einer Gemeinschaft ohne Selbstsucht verschmelzen kann!«
»Kommt Hans noch immer so oft zu Ihnen?« beharrte Ulrich vorsichtig. Gerda zuckte die Achseln.
Ihre klugen Eltern hatten Hans Sepp nicht das Haus verboten, sondern ihm einige Tage im Monat eingeräumt. Dafür mußte Hans Sepp, der Student, der nichts war und noch keine Aussicht hatte, etwas zu werden, ihnen sein Ehrenwort geben, fortab
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