Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
bloß hervorzuziehn.
»Sie wissen, wie Gerda ist;« sagte sie »ein schönes und begabtes Mädchen, aber –«
»Ein bißchen brüsk« ergänzte Ulrich.
»Ja, Gott sei es geklagt, immer extrem.«
»Und also noch immer germanisch?«
Klementine sprach von den Gefühlen von Eltern. »Den Gang einer Mütter« nannte sie etwas pathetisch ihren Besuch, der den Nebenzweck hatte, Ulrich wieder für ihr Haus zu gewinnen, nachdem er in der Parallelaktion, wie man hörte, so große Erfolge hatte. »Ich möchte mich selbst strafen,« fuhr sie weiter fort »weil ich diesen Verkehr gegen Leos Willen in den letzten Jahren unterstützt habe. Ich fand nichts daran; diese jungen Leute sind in ihrer Art Idealisten; und wenn man unbefangen ist, muß man auch einmal ein verletzendes Wort vertragen können. Aber Leo – Sie wissen ja, wie er ist – regt sich über den Antisemitismus auf, ob dieser nun bloß mystisch und symbolisch ist oder nicht.«
»Und Gerda in ihrer freien, deutsch blonden Art will das Problem nicht anerkennen?« ergänzte Ulrich.
»Sie ist darin so, wie ich selbst in meiner Jugend gewesen bin. Glauben Sie übrigens, daß Hans Sepp eine Zukunft in sich hat?«
»Ist Gerda mit ihm verlobt?« fragte Ulrich vorsichtig.
»Dieser Junge bietet doch nicht die geringste Aussicht auf Versorgung!« seufzte Klementine. »Wie kann man da von Verlobung reden; aber als ihm Leo das Haus verbot, aß Gerda drei Wochen lang so wenig, daß sie bis auf die Knochen abgemagert ist.« Und plötzlich sagte sie zornig: »Wissen Sie, mir kommt das wie eine Hypnose vor, wie eine geistige Infektion! Ja, Gerda kommt mir manchmal wie hypnotisiert vor! Der Junge setzt in unserem Haus unaufhörlich seine Weltanschauung auseinander, und Gerda bemerkt nicht die fortgesetzte Beleidigung ihrer Eltern, die darin liegt, obgleich sie sonst immer ein gutes und herzliches Kind gewesen ist. Wenn ich ihr aber etwas sage, so antwortet sie: ‚Du bist altmodisch, Mama‘. Ich dachte mir – Sie sind der einzige, auf den sie etwas gibt, und Leo hält so viel von Ihnen! – könnten Sie nicht einmal zu uns kommen und Gerda ein wenig die Augen für die Unreife von Hans und seinen Gefährten öffnen?«
Da Klementine sehr korrekt und das ein Gewaltstreich war, mußte sie sehr ernste Sorgen haben. Trotz allen Zwistes fühlte sie in dieser Lage etwas wie eine solidarische Gesamthaftung mit ihrem Gatten. Ulrich hob besorgt die Augenbrauen.
»Ich fürchte, Gerda wird sagen, daß auch ich altmodisch sei. Diese neuen jungen Leute hören nicht auf uns ältere, und das sind Prinzipienfragen.«
»Ich dachte schon, daß es Gerda vielleicht am ehesten auf andere Gedanken bringen würde, wenn Sie irgend eine Aufgabe für sie in dieser großen Aktion hätten, von der man so viel spricht« flocht Klementine ein, und Ulrich zog es vor, ihr eilig seinen Besuch zuzusagen, aber zu versichern, daß die Parallelaktion für eine solche Verwendung noch lange nicht reif genug sei.
Als ihn Gerda einige Tage später eintreten sah, bekam sie kreisrunde rote Flecken auf den Wangen, aber sie schüttelte ihm kräftig die Hand. Sie war eines jener reizend zielbewußten heutigen Mädchen, die auf der Stelle Omnibusschaffner würden, wenn eine allgemeine Idee dies verlangte.
Ulrich hatte sich in der Annahme, daß er sie allein antreffen würde, nicht getäuscht; Mama besorgte um diese Stunde Einkäufe, und Papa war noch im Büro. Und Ulrich hatte kaum die ersten Schritte ins Zimmer getan, als ihn alles zum Verwechseln an einen Tag ihres früheren Beisammenseins erinnerte. Das Jahr war damals allerdings schon um etliche Wochen weiter voran gewesen; es war Frühling gewesen, aber einer jener stechend heißen Tage, die dem Sommer zuweilen wie Glutflocken voranfliegen und von den noch nicht abgehärteten Körpern schlecht ertragen werden. Gerdas Gesicht sah angegriffen und schmal aus. Sie war weiß gekleidet und roch weiß wie auf der Wiese getrocknetes Leinen. Die Markisen waren in allen Zimmern herabgelassen, und die ganze Wohnung war voll widerspenstigen Halblichts und Wärmepfeilen, die mit abgebrochenen Spitzen durch das sackgraue Hindernis drangen. Ulrich hatte von Gerda das Gefühl, sie bestehe durch und durch aus solchen frischgewaschenen Leinenkulissen, wie es ihr Kleid war. Es war ein völlig sachliches Gefühl, und er hätte ruhig eine nach der anderen von ihr wegheben können, ohne im geringsten dazu eines verliebten Antriebs zu bedürfen. Und eben dieses Gefühl hatte er auch
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