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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Diotima empfangen hatte. Rachel fühlte einen glühenden Nebel kreisen und war den Tränen nahe. Endlich sagte sie heftig: »Ich bestehle nicht meine Herrschaft!«
    »Warum nicht?« Soliman zeigte die Zähne.
    »Ich tue es nicht!«
    »Ich habe nicht gestohlen. Das gehört mir!« rief Soliman aus.
    »Eine gute Herrschaft sorgt für uns Arme« fühlte Rachel. Liebe zu Diotima fühlte sie. Grenzenlose Achtung vor Arnheim. Tiefen Abscheu vor jenen wiegelnden und wühlenden Menschen, die eine gute Polizei subversive Elemente nennt; – aber sie hatte für alles das nicht die Worte. Wie ein riesiger, mit Heu und Frucht überladener Wagen, an dem Bremse und Hemmschuh versagen, kam dieser ganze Ballen von Gefühl in ihr ins Rollen.
    »Das ist mein! Nimm es!« wiederholte Soliman, der wieder nach Rachels Hand griff. Sie riß den Arm zurück, er wollte ihn festhalten, geriet allmählich in Wut, und als er nahe daran war, loslassen zu müssen, weil seine Knabenkraft gegen Rachels Widerstand nicht ausreichte, die sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers aus dem Griff seiner Hände zog, beugte er sich besinnungslos nieder und biß wie ein Tier in den Arm des Mädchens.
    Rachel schrie auf, mußte den Schrei zurückhalten und stieß Soliman ins Gesicht.
    Aber in diesem Augenblick standen ihm schon die Tränen in den Augen, er warf sich auf die Knie, preßte seine Lippen an Rachels Kleid und weinte so leidenschaftlich, daß Rachel fühlte, wie die heiße Nässe bis auf ihre Schenkel drang.
    Sie blieb ohnmächtig vor dem Knienden stehn, der sich an ihren Rock klammerte und den Kopf an ihrem Leib vergrub. Sie hatte noch nie im Leben ein solches Gefühl kennengelernt und strich Soliman leise mit den Fingern durch den weichen Draht seiner Haarbüschel.

80

Man lernt General Stumm kennen, der überraschend auf dem Konzil erscheint
    EINE MERKWÜRDIGE BEREICHERUNG hatte inzwischen das Konzil erfahren: Trotz der strengen Sichtung derer, die aufgefordert wurden, war eines Abends der General aufgetaucht und hatte sich bei Diotima aufs höchste für die Ehre bedankt, die ihm ihre Einladung erweise. Dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angewiesen, erklärte er, aber einer so hervorragenden Zusammenkunft auch nur als stummer Zuhörer beiwohnen zu dürfen, sei seit seiner Jugend seine persönliche Sehnsucht gewesen. Diotima sah sich schweigend über seinen Kopf hinweg um und suchte nach dem Schuldigen; Arnheim sprach wie ein Staatsmann mit einem anderen zu Sr. Erlaucht, Ulrich sah unsäglich gelangweilt aufs Büfett und schien die dort stehenden Torten zu zählen; die Front gewohnten Anblicks war lückenlos geschlossen und gewährte dem Eindringen eines so ungewöhnlichen Argwohns nicht den kleinsten Raum. Andererseits wußte aber Diotima nichts so genau, wie daß sie selbst den General nicht eingeladen habe, außer sie müßte annehmen, daß sie nachtwandle oder Anfälle von Bewußtseinsabwesenheit habe. Es war ein unheimlicher Augenblick. Da stand der kleine General und hatte unzweifelhaft eine Einladung in der Brusttasche seines vergißmeinnichtfarbenen Waffenrocks, denn ein so freches Wagnis, wie es sein Kommen sonst gewesen wäre, war einem Mann in seiner Stellung nicht zuzumuten; andererseits stand dort im Bücherzimmer Diotimas graziöser Schreibtisch, und in seiner Lade lagen versperrt die überschüssigen gedruckten Einladungskarten, zu denen kaum jemand außer Diotima Zugang hatte. Tuzzi? – fuhr ihr durch den Kopf; allein auch das hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Es blieb ein sozusagen spiritistisches Rätsel, wie die Einladung und der General zusammengekommen seien, und da Diotima in persönlichen Angelegenheiten leicht geneigt war, an überirdische Kräfte zu glauben, fühlte sie einen Schauder vom Scheitel bis zu den Sohlen. Es blieb ihr aber nichts übrig, als den General willkommen zu heißen.
    Übrigens hatte auch er sich ein wenig über die Einladung gewundert; ihr nachträgliches Eintreffen hatte ihn überrascht, weil Diotima bei seinen zwei Besuchen sich doch leider nicht das geringste von solcher Absicht hatte anmerken lassen, und es war ihm aufgefallen, daß die, offenbar von Miethand geschriebene, Adresse in der Bezeichnung und Anrede seines Ranges und Amtes Unrichtigkeiten aufwies, die einer Dame in Diotimas gesellschaftlicher Stellung nicht entsprochen haben würden. Aber der General war ein fröhlicher Mensch und kam nicht so leicht darauf, sich etwas Ungewöhnliches zu denken,

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