0695 - Blut an bleichen Lippen
Zu dieser Zeit überwog das Grün! Und die Stille!
Nur hin und wieder wurde sie unterbrochen, wenn die Insekten summten. Von der Westseite des Teiches her, wo um diese Zeit stets ein dünner Dunstfilm aufstieg und das Ufer wie mit einem hellen Bart umgab, löste sich ein Boot.
Es war ein dunkel gestrichener Ruderkahn, in dem eine einzige Person saß.
Sie hieß Lilian Demarest, und sie gehörte zu den Menschen, die sich vor dem Teich und auch vor der Dämmerung nicht fürchteten. Sie liebte die stillen Abende auf dem Wasser, wo sich der Tag verabschiedete, um dem Abend und der folgenden Nacht Platz zu schaffen.
Dann wurde die Welt anders.
Geheimnisvoller, unschärfer. Da hatte das Restlicht des Tages Farbe bekommen, die an einen Schleier erinnerte, der sich weich über das Wasser und die Uferregionen legte und die Natur wie ein dünner Mantel umgab.
Es war die berühmte Stunde zwischen Tag und Traum, wo plötzlich eine Zwischenzeit existierte, die zwar nicht zu sehen, aber dennoch zu fühlen war.
Lilian Demarest hütete sich davor, die Ruder zu hart in das grüne Wasser zu tauchen. Jedes laute Plätschern hätte sie gestört und auch die Stille zu hart unterbrochen. Das leise Plätschern aber paßte sehr gut zu dieser gesamten Atmosphäre, in der ein Mensch wie ein Störfaktor wirkte, wenn er sich nicht an gewisse Regeln hielt.
Lilian hatte die Uferregion schnell verlassen. Sie trug ein helles Kleid und wirkte in ihrem Boot wie ein fahrender Geist. Das dunkle Haar hatte sie zurückgekämmt, im Nacken wurde es von einer weißen Schleife gehalten.
Das Gesicht der jungen Frau zeigte eine vornehme Blässe, in der die dunklen Augen besonders auffielen. Sie lagen in den Höhlen wie zwei überreife Kirschen.
Die Schatten der heranziehenden Dämmerung machten ihr nichts. Viele fürchteten sich davor, sie aber fühlte sich von ihnen umfangen wie von ihrer Kleidung. Manchmal waren sie auch wie Beschützer.
Sie ruderte stets dieselbe Strecke. Immer nur bis zur Mitte des Sees, wo sie dann die Stangen einholte und sich einfach treiben ließ. Noch einmal kräftig durchziehen, einmal tief ein- und ausatmen, dann hatte sie es geschafft.
Sie lauschte dem leisen Klatschen der Wellen, holte die Ruder ein und blieb für einen Moment sitzen, um eins zu werden mit einer Natur, deren weiche Linien sie umgaben.
Auch das Plätschern der Wellen verging, ihr Kahn schaukelte noch einige Male, dann bewegte er sich nur noch, als sich Lilian nach hinten lehnte, wo sie das große Kissen aufgestellt hatte, um ihrem Kopf und auch einem Teil des Rückens einen weichen Halt zu geben.
Die Haltung liebte sie. Es war genau der Sichtwinkel, der es ihr ermöglichte, gegen den immer dunkler werdenden Himmel, aber auch gegen die Bäume des Ufers zu blicken und vor sich hinzuträumen.
Daß sie sich nicht allein auf dem See befand, war ihr noch nicht aufgefallen. Sie konnte die beiden Männer auch nicht sehen, die sich am dichten Ufergestrüpp lautlos hatten ins Wasser gleiten lassen und getaucht waren, um in der grünen Tiefe weiterzuschwimmen.
Sie gehörten zu denjenigen, die Lilian schon seit Tagen beobachtet hatten. Sie wußten genau, wann sie auf den kleinen See hinausfuhr, und sie gehörten zu denjenigen Personen, die unbedingt eine Frau wollten.
Natürlich eine wie Lilian. So unschuldig wirkend, so schön, aber sie waren fest davon überzeugt, daß eine Person wie sie Feuer im Leib hatte. Und das wollten sie löschen.
Lilian ahnte nichts.
Noch immer saß und lag sie halb, schaute gegen den Himmel, sah die scharf konturierten Ränder der Wolken und lauschte dem leichten Wind, der ihren Körper liebkoste und mit dem Stoff des dünnen Kleides spielte. Es war weit geschnitten. Wenn sie tanzte, würde der Rock eine große Glocke bilden. In diesem Kleid hatte sie mal einen Maler inspiriert und gleichzeitig fasziniert. Er war von ihr so begeistert gewesen, daß er es sich nicht hatte nehmen lassen, sie auf eine Leinwand zu bannen.
Manchmal war das Leben wunderbar, so wie jetzt, wo sie sich in alte Märchen und Sagen hineinträumen konnte, denn dafür war die Landschaft wie geschaffen.
Die Schatten des herannahenden Abends legten sich von oben über sie und das Gewässer. Aber sie schienen auch aus dem Wasser zu steigen und bildeten einen geheimnisvollen Mantel, der nicht nur sie umgab, sondern auch die Geheimnisse des Wassers und der Umgebung einhüllte, damit sie nicht sichtbar wurden.
Für Lilian waren sie vorhanden.
Wenn sie die Augen
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