Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
daß seine Lust nicht wußte, ob sie sich in Rachels Blut, in ihren Küssen oder in einem Erstarren aller Adern in seinem Leib stillen solle, sobald er die Geliebte erblicke.
Wo immer sich Rachel auch verbarg, tauchte er plötzlich auf und lächelte über seine gelungene List. Er schnitt ihr den Weg ab, und weder das Arbeitszimmer des Herrn noch Diotimas Schlafzimmer war ihm heilig; er kam hinter Vorhängen, Schreibtisch, Schränken und Betten hervor, und Rachel brach jedesmal beinahe das Herz ab, über solche Keckheit und beschworene Gefahr, sobald sich irgendwo das Halbdunkel zu einem schwarzen Gesicht verdichtete, aus dem zwei weiße Zahnreihen aufleuchteten. Aber sobald Soliman der wirklichen Rachel gegenüberstand, überwältigte ihn die Sitte. Dieses Mädchen war so viel älter als er und so schön wie ein zartes Herrenhemd, das man bei bestem Willen nicht gleich verderben kann, wenn es frisch aus der Wäsche kommt, und überhaupt einfach so wirklich, daß alle Phantasien in ihrer Gegenwart erblichen. Sie machte ihm Vorwürfe wegen seines ungezogenen Benehmens und pries Diotima, Arnheim und die Ehre, an der Parallelaktion mitwirken zu dürfen; Soliman aber hatte immer kleine Geschenke für sie bei sich und brachte ihr bald eine Blume mit, die er aus dem Strauß rupfte, den sein Herr Diotima übersandte, bald eine Zigarette, die er zu Hause gestohlen hatte, oder eine Handvoll Bonbons, die er im Vorbeigehn aus einer Schale raubte; er preßte dann bloß Rachels Finger und führte ihre Hand, während er ihr das Präsent überreichte, an sein Herz, das in seinem schwarzen Körper wie eine rote Fackel in dunkler Nacht brannte.
Und einmal war Soliman sogar in Rachels Kammer gedrungen, wohin sie sich auf strengen Befehl Diotimas, die tags vorher während Arnheims Anwesenheit durch eine Unruhe im Vorzimmer gestört worden war, mit einer Näharbeit hatte zurückziehen müssen. Sie hatte sich, ehe sie ihren Hausarrest antrat, schnell nach ihm umgesehen, ohne ihn zu finden, und als sie traurig in ihre kleine Stube trat, saß er leuchtend auf ihrem Bett und sah ihr entgegen. Rachel zögerte, die Tür zu schließen, aber Soliman sprang auf und tat es. Dann kramte er in seinen Taschen, zog etwas hervor, blies es sauber und näherte sich dem Mädchen wie ein heißes Bügeleisen.
»Gib deine Hand!« befahl er.
Rachel hielt sie ihm hin. Er hatte ein paar bunte Hemdknöpfe in der seinen und machte den Versuch, sie in die Stulpe von Rachels Ärmel einzusetzen. Rachel dachte, es sei Glas.
»Edelsteine!« erläuterte er stolz.
Das Mädchen, dem bei diesem Wort Böses ahnte, zog rasch den Arm an sich. Sie dachte sich nichts Bestimmtes; der Sohn eines Mohrenfürsten mochte, auch wenn er gestohlen worden war, heimlich im Hemd eingenäht noch einige Edelsteine besitzen, darüber weiß man nichts Sicheres; aber sie fürchtete sich unwillkürlich vor diesen Knöpfen, als ob ihr Soliman Gift hinhielte, und mit einemmal kamen ihr alle Blumen und Bonbons, die er ihr schon geschenkt hatte, recht sonderbar vor. Sie preßte die Hände an den Leib und sah Soliman entgeistert an. Sie fühlte, daß sie ihm ernste Worte sagen müßte; sie war älter als er und diente bei einer gütigen Herrschaft. Aber es fielen ihr in diesem Augenblick nur solche Sprüche ein wie »Ehrlich währt am längsten« oder »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Sie wurde bleich; das erschien ihr zu einfach. Sie hatte ihre Lebensweisheit im Elternhaus empfangen, und das war eine strenge Weisheit, so schön und einfach wie alter Hausrat, aber man konnte nicht viel damit anfangen, denn bei solchen Sprüchen kam immer nur ein Satz und dann gleich der Schlußpunkt. Und sie schämte sich in diesem Augenblick solcher Kinderweisheit, wie man sich alter, abgetragener Sachen schämt. Daß die alte Truhe, die auf dem Boden armer Leute steht, nach hundert Jahren eine Zierde im Salon der reichen wird, wußte sie nicht, und wie alle ehrlichen einfachen Leute bewunderte sie einen neuen Rohrstuhl. Darum suchte sie in ihrem Gedächtnis nach Ergebnissen ihres neuen Lebens. Aber so vieler wunderbaren Liebes- und Schreckensszenen sie sich auch aus den Büchern erinnerte, die sie von Diotima bekommen hatte, keine war gerade so, wie sie es hier gebraucht hätte, alle die schönen Worte und Gefühle hatten ihre eigenen Situationen und paßten so wenig in die ihre wie ein Schlüssel in ein fremdes Schloß. Das gleiche begab sich mit den herrlichen Aussprüchen und Ermahnungen, die sie von
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