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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Grundbuchsblatt der modernen Kultur nennen,« erläuterte Stumm »denn wir haben das dann erweitert, und es enthält jetzt die Namen der Ideen und ihrer Urheber, von denen wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren bewegt worden sind. Ich habe keine Ahnung davon gehabt, was das für eine Mühe macht!« Da Ulrich wissen wollte, wie er dieses Verzeichnis zustandegebracht, erklärte er gerne den Vorgang nach seinem System. »Ich habe einen Hauptmann, zwei Leutnants und fünf Unteroffiziere dazu gebraucht, um das in so kurzer Zeit fertigzustellen! Wenn wir ganz modern hätten sein dürfen, so würden wir ja an alle Regimenter die Frage geschickt haben ‚Wen halten Sie für den größten Menschen?‘, wie man das heute macht, bei den Rundfragen der Zeitungen und dergleichen, weißt du, zugleich mit dem Befehl, das perzentuelle Abstimmungsergebnis anher zu melden; aber beim Militär geht so etwas nicht, weil natürlich kein Truppenkörper etwas anderes melden darf als Se. Majestät. Ich hab dann daran gedacht, erheben zu lassen, welche Bücher am meisten gelesen werden und die höchsten Auflagen haben, aber da hat sich gleich herausgestellt, daß das außer der Bibel die Neujahrsbüchel der Post mit den Tarifen und alten Witzen sind, die jeder Adressat für sein Trinkgeld von seinem Briefträger bekommt, was uns wieder darauf aufmerksam gemacht hat, wie schwierig der Zivilgeist ist, denn im allgemeinen gelten ja doch die Bücher für die besten, die sich für jeden Leser eignen, oder es muß wenigstens, hat man mir gesagt, ein Autor in Deutschland sehr viele Gleichgesinnte haben, damit er für einen ungewöhnlichen Geist gilt. Also, diesen Weg haben wir auch nicht einschlagen können, und wie es schließlich gemacht worden ist, das kann ich dir im Augenblick nicht sagen, das war eine Idee des Korporals Hirsch, gemeinsam mit dem Leutnant Melichar, aber es ist uns gelungen.«
    General Stumm legte das Blatt beiseite und nahm mit einer bedeutende Enttäuschungen ankündigenden Miene ein anderes vor. Er hatte nach vollzogener Bestandaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen gefunden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen. »Daß mir von den berühmten Leuten bei deiner Kusine jeder etwas anderes sagt, wenn ich ihn um Belehrung bitte, daran habe ich mich schon gewöhnt« meinte er; »aber daß es mir, wenn ich längere Zeit mit ihnen gesprochen habe, trotzdem vorkommt, als ob sie alle das gleiche sagen würden, das ist es, was ich in keiner Weise kapieren kann, und vielleicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus!« Wovon General Stumms Verstand in solcher Weise geängstigt wurde, war keine Kleinigkeit und hätte eigentlich nicht nur dem Kriegsministerium überlassen bleiben dürfen, obgleich sich zeigen ließe, daß es zum Kriege allerhand beste Beziehungen unterhält. Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen. Das scheint schon so natürlich zu sein, wie daß es Tag und Nacht, heiß und kalt, Liebe und Haß und zu jedem Beugemuskel im menschlichen Körper den widersprechend gesinnten Streckmuskel gibt, und General Stumm würde ebensowenig wie irgendwer auf den Einfall gekommen sein, darin etwas Ungewöhnliches zu bemerken, wenn nicht sein Ehrgeiz durch seine Liebe zu Diotima in dieses Abenteuer gestürzt worden wäre. Denn die Liebe begnügt sich nicht damit, daß die Einheit der Natur auf Gegensätzen ruht, sondern sie will in ihrem Verlangen nach zärtlicher Gesinnung eine Einheit ohne Widersprüche, und so hatte der General auf alle mögliche Weise versucht, diese Einheit herzustellen. »Ich habe hier« erzählte er Ulrich, indem er gleichzeitig die dazugehörenden Blätter vorwies, »ein Verzeichnis der Ideenbefehlshaber anlegen lassen, das heißt, es enthält alle Namen, welche in letzter Zeit sozusagen größere Heereskörper von Ideen zum Siege geführt haben; hier dieses andere ist eine

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