Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichturigen liebt! Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon. Wenn man das, wie es üblich ist, Schönheit nennt, so sollte Schönheit ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist!«
Walter war bis in die Lippen blaß geworden. Diese Auffassung der Kunst als eine Lebensverneinung als einen Widerspruch zum Leben haßte er. Das war in seinen Augen Boheme, Rest eines veralteten Wunsches, den »Bürger« zu ärgern. Die ironische Selbstverständlichkeit, daß es in einer vollendeten Welt keine Schönheit mehr geben könne, weil sie dort zur Überflüssigkeit wird, bemerkte er darin; aber die unausgesprochene Frage seines Freundes hörte er nicht. Denn die Einseitigkeit in dem, was er behauptete, lag auch für Ulrich klar zu Tage. Er hätte ebensogut das Gegenteil davon. sagen können, daß Kunst Leugnung sei, denn Kunst ist Liebe; indem sie liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. Und nur weil auch unsere Liebe bloß aus Stücken besteht, ist die Schönheit so etwas wie Steigerung u nd Gegensatz. Und es gibt nur das Meer der Liebe, worin die einer Steigerung nicht mehr fähige Vorstellung der Vollkommenheit und die auf Steigerung beruhende der Schönheit eins sind! Wieder einmal hatten Ulrichs Gedanken das »Reich« gestreift, und er hielt unwillig ein. Auch Walter hatte sich inzwischen gesammelt, und nachdem er die Andeutung seines Freundes, man sollte ungefähr so leben, wie man lese, zuerst für eine gewöhnliche und sodann für eine unmögliche Behauptung erklärt hatte, ging er nun dazu über, sie als eine sündhafte und gemeine zu beweisen.
»Wenn ein Mensch« begann er in der gleichen kunstvoll zurückhaltenden Weise wie zuvor »nur deinen Vorschlag zur Grundlage seines Lebens nähme, so müßte er ungefähr – um von anderen Unmöglichkeiten zu schweigen – alles das gutheißen, was eine schöne Idee in ihm anregt; ja sogar alles das, was die Möglichkeit in sich trägt, unter eine solche gefaßt zu werden. Das würde natürlich den allgemeinen Verfall bedeuten, aber da dir diese Seite voraussichtlich gleichgültig ist – oder vielleicht denkst du an jene ungewissen allgemeinen Vorkehrungen, von denen du nichts Näheres gesagt hast, – so möchte ich bloß Auskunft über die persönlichen Folgen. Mir scheint es nicht anders möglich zu sein, als daß ein solcher Mensch dann in allen Fällen, wo er nicht gerade der Dichter seines Lebens ist, schlimmer als ein Tier daran wäre; wenn ihm keine Idee einfiele, würde ihm auch keine Entscheidung einfallen, er wäre einfach für einen großen Teil des Lebens seinen Trieben, Launen, den gewöhnlichen Allerweltsleidenschaften, mit einem Wort, dem Allerunpersönlichsten ausgeliefert, woraus ein Mensch nur besteht, und müßte sozusagen, solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert, standhaft mit sich machen lassen, was ihm gerade einfällt!?«
»Er müßte sich dann weigern, etwas zu tun!« antwortete statt Ulrichs Clarisse. »Das ist der aktive Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muß!«
Walter brachte nicht den Mut auf, sie anzublicken. Die Fähigkeit der Weigerung spielte ja unter ihnen eine große Rolle; Clarisse, im langen, die Füße bedeckenden Nachthemd wie ein kleiner Engel anzusehen, stand aufgesprungen im Bett und deklamierte mit blitzenden Zähnen frei nach Nietzsche. »Wie ein Senkblei werfe ich meine Frage in deine Seele! Du wünschest dir Kind und Ehe, aber ich frage dich: Bist du der Mensch, der ein Kind sich wünschen darf?! Bist du der Siegreiche, der Gebieter deiner Tugenden? Oder reden aus dir Tier und Notdurft…!?«; im Halbdunkel des Schlafzimmers war das ganz grausig anzusehen gewesen, während Walter sie vergeblich in die Polster herab zu locken versuchte. Und nun würde sie in Zukunft also über ein neues Schlagwort verfügen; aktiver Passivismus, dessen man gegebenenfalls fähig sein müsse, das klang ganz nach einem Mann ohne Eigenschaften; vertraute sie sich ihm an? bestärkte er sie am Ende in ihren Eigenheiten? Diese Fragen krümmten sich wie Würmer in Walters Brust, und es wurde ihm
Weitere Kostenlose Bücher