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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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aber Ulrich getroffen, und er rief heftig aus: »Der Wahrheit die Ehre, das beschreibst du hervorragend richtig! Wenn ich mich so recht in die Bewunderung für deine Kusine versenke, so löst sich alles in mir in nichts auf. Und wenn ich mich ganz angestrengt zusammennehme, damit mir endlich eine Idee einfalle, mit der ich ihr nützen könnte, so entsteht ebenfalls eine äußerst unangenehme Leere in mir; trottelhaft darf man das wohl nicht nennen, aber sehr ähnlich ist es bestimmt. Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilverstand – also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ablehnen, das ist wohl nur ein Witz von dir! – aber daß wir den gleichen Verstand haben, das denk ich mir auch manchmal; und was darüber hinausgeht, meinst du, also alle diese Dinge, die uns Soldaten so ungemein zivilistisch vorkommen, wie Seele, Tugend, Innigkeit, Gemüt – der Arnheim kann unglaublich geläufig damit umgehn, aber du meinst, daß das zwar Geist ist, ja natürlich, du sagst ja wohl, daß gerade das diese sogenannten Rücksichten höherer Natur sind, aber du sagst eben auch, daß man ganz blöd davon wird, und das stimmt alles ausgezeichnet, aber schließlich ist der Zivilgeist doch der überlegene, und das willst du doch gewiß nicht bestreiten, und jetzt frage ich dich, wie stimmt denn das?«
    »Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche –«
    »Aber das ist doch Unsinn?« lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Athleten gehalten hatte, so meldete sich in dem Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine.
    »Nicht mehr oder weniger Unsinn als alles andere« verteidigte sich Ulrich. »Aber du mußt mich ausreden lassen. Siehst du, es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phonogramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.«
    »Das stimmt zu meinen Untersuchungen« bestätigte Stumm.
    »Bloß ist man nicht so eifrig wie du, eine Zusammenfassung zu suchen« fuhr Ulrich fort. »Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten. Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hängen würde. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt.«
    »Ausgezeichnet!« rief Stumm, wieder gewonnen, aus. »Etwas Ähnliches habe ich selbst schon Diotima gesagt! Aber bedenkst du nicht, daß man in dieser Unordnung die Rechtfertigung des Militärs sehen müßte, und ich schäme mich doch, auch nur einen Augenblick daran zu glauben!«
    »Ich würde dir raten,« meinte Ulrich »Diotima den

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