Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
außer Juristen, die noch sehr viel Theologie und Ketzerverbrennung in der Nase haben, fragen nach Ursachen heute nur noch Familienmitglieder, die sagen: Du bist die Ursache meiner schlaflosen Nächte, oder: der Kurssturz in Getreide war die Ursache seines Unglücks. Aber fragen Sie einen Verbrecher, nachdem Sie sein Gewissen aufgerüttelt haben, wie er dazu gekommen ist! Er weiß es nicht; auch dann nicht, wenn sein Bewußtsein nicht während eines einzigen Augenblicks der Tat abwesend war!«
Diotima richtete sich höher auf. »Warum sprechen Sie so oft von Verbrechern? Sie lieben das Verbrechen besonders. Das muß doch etwas bedeuten?«
»Nein« entgegnete der Vetter. Es bedeutet nichts. Höchstens eine gewisse Angeregtheit. Das gewöhnliche Leben ist ein Mittelzustand aus allen uns möglichen Verbrechen. Aber da wir schon das Wort Theologie gebraucht haben, möchte ich Sie etwas fragen.«
»Gewiß wieder, ob ich schon einmal maßlos verliebt oder eifersüchtig war!?«
»Nein. überlegen Sie einmal: Wenn Gott alles vorher bestimmt und weiß, wie kann der Mensch sündigen? So wurde ja früher gefragt, und sehen Sie, es ist noch immer eine ganz moderne Fragestellung. Eine ungemein intrigante Vorstellung von Gott hatte man sich da gemacht. Man beleidigt ihn mit seinem Einverständnis, er zwingt den Menschen zu einer Verfehlung, die er ihm übelnehmen wird; er weiß es ja nicht nur vorher – für solche resignierte Liebe hätten wir immer Beispiele –, sondern er veranlaßt es! In einer ähnlichen Lage zu einander befinden wir uns heute alle. Das Ich verliert die Bedeutung, die es bisher gehabt hat, als ein Souverän, der Regierungsakte erläßt; wir lernen sein gesetzmäßiges Werden verstehn, den Einfluß seiner Umgebung, die Typen seines Aufbaus, sein Verschwinden in den Augenblicken der höchsten Tätigkeit, mit einem Wort, die Gesetze, die seine Bildung und sein Verhalten regeln. Bedenken Sie: die Gesetze der Persönlichkeit, Kusine! Es ist das wie ein gewerkschaftlicher Zusammenschluß der einsamen Giftschlangen oder eine Handelskammer für Räuber! Denn da Gesetze wohl das Unpersönlichste sind, was es auf der Welt gibt, wird die Persönlichkeit bald nicht mehr sein als ein imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen, und es wird schwerhalten, für sie jenen ehrenvollen Standpunkt zu finden, den Sie nicht entbehren mögen…«
So sprach ihr Vetter, und Diotima wandte gelegentlich ein: »Aber lieber Freund, man soll doch alles gerade so persönlich tun wie nur möglich!« Schließlich sagte sie: »Sie sind wirklich sehr theologisch heute; von dieser Seite habe ich Sie ja gar nicht gekannt!« Sie saß wieder wie eine ermüdete Tänzerin da. Ein kräftiges und schönes Stück Weib ; irgendwie fühlte sie das selbst in ihren Gliedern. Sie hatte ihren Vetter wochenlang gemieden, vielleicht waren es sogar schon Monate. Aber sie mochte den Gleichaltrigen. Er sah lustig aus, im Frack, in der schwach beleuchteten Kammer, schwarz und weiß wie ein Ordensritter; dieses Schwarz und Weiß hatte etwas von der Leidenschaft eines Kreuzes. Sie sah sich in der bescheidenen Kammer um, die Parallelaktion war weit, große leidenschaftliche Kämpfe lagen hinter ihr, dieses Zimmer war einfach wie die Pflicht, gemildert durch Palmkätzchen und unbeschriebene ausgemalte Ansichtskarten in den Spiegelecken; zwischen diesen, von der Pracht der Großstadt umkränzt, erschien also Rachels Gesicht, wenn die Kleine sich im Spiegel betrachtete. Wo wusch sie sich eigentlich? In jenem schmalen Kästchen mußte, wenn man es aufklappte, eine Blechschüssel stehn – erinnerte sich Diotima, und dann dachte sie: dieser Mann will und will nicht.
Sie sah ihn ruhig an, eine freundliche Zuhörerin. »Will mich Arnheim wirklich heiraten?« fragte sie sich. Er hat es gesagt. Aber er hat dann weiter nicht darauf gedrungen. Er hat so viel anderes zu reden. Aber auch ihr Vetter hätte eigentlich, statt von abliegenden Dingen zu reden, fragen müssen: Wie steht es also? Warum frug er nicht?! Es kam ihr vor, daß er sie verstehen müßte, wenn sie ihm ausführlich von ihren inneren Kämpfen erzählen würde. »Wird es mir zugute kommen?« hatte er gewohnheitsgemäß gefragt, als sie ihm erzählte, daß sie sich geändert habe. Frech! Diotima lächelte.
Diese beiden Männer waren im Grunde gemeinsam recht s onderbar. Warum war ihr Vetter auf Arnheim so schlecht zu sprechen? Sie wußte, daß Arnheim seine Freundschaft suchte; aber auch Ulrich, nach seinen
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