Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
berühren, obgleich sie die Anziehung, die die Körper auf einander in dieser Enge ausübten, wie einen magnetischen Strom spürten. – Wenn sie sich nun…? dachte sie. – Aber was konnte man überhaupt in dieser Kammer tun? Sie sah sich um. Wie eine Dirne benehmen? Aber wie macht man das? Wenn sie flennen würde? Flennen, das war ein Schulmädelwort, das ihr plötzlich einfiel. Wenn sie plötzlich täte, was er verlangt, sich ausziehen, den Arm um seine Schulter legen und singen, was singen? Harfe spielen? Sie sah ihn lächelnd an. Er kam ihr wie ein ungezogener Bruder vor, in dessen Gesellschaft man treiben könnte, was man wollte. Auch Ulrich lächelte. Aber sein Lächeln war wie ein blindes Fenster; denn nachdem er der Verführung unterlegen war, dieses Gespräch mit Diotima zu führen, fühlte er sich bloß davon beschämt. Dennoch ahnte ihr dabei etwas von der Möglichkeit, diesen Mann zu lieben; es kam ihr so vor, wie ihrer Ansicht nach die moderne Musik war, ganz unbefriedigend, aber voll einer aufregenden Andersartigkeit. Und obgleich sie annahm, daß sie natürlich mehr davon ahne als er selbst, begannen, wie sie vor ihm stand, ihre Beine heimlich zu glühen, so daß sie mit einer Miene, als ob das Gespräch schon zu lange gedauert hätte, ihrem Vetter etwas plötzlich sagte: »Lieber Freund, wir tun etwas ganz Unmögliches; bleiben Sie noch einen Augenblick hier allein, ich werde vorausgehn, um mich wieder unseren Gästen zu zeigen.«
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Kampf und Liebe im Hause Fischel
GERDA WARTETE vergeblich auf Ulrichs Besuch. Die Wahrheit war, er hatte dieses Versprechen vergessen oder erinnerte sich in Augenblicken daran, wo er anderes vorhatte.
»Laß ihn!« sagte Frau Klementine, wenn Direktor Fischel murrte. »Früher waren wir ihm gut genug, und jetzt ist er wahrscheinlich anmaßend geworden. Wenn du ihn aufsuchst, machst du es noch schlechter; du bist viel zu ungeschickt dazu.«
Gerda sehnte sich nach dem älteren Freund. Sie wünschte ihn herbei und wußte, daß sie ihn fortwünschen würde, wenn er käme. Sie hatte trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch nichts erlebt, außer einem Herrn Glanz, der sich, von ihrem Vater unterstützt, vorsichtig um sie bewarb, und ihren christ-germanischen Freunden, die ihr manchmal nicht wie Männer, sondern wie Schulbuben vorkamen. »Warum kommt er nie?« frug sie sich, wenn sie an Ulrich dachte. Es galt im Kreis ihrer Freunde für sicher, daß die Parallelaktion den Ausbruch einer geistigen Vernichtung des deutschen Volks bedeute, und sie schämte sich seiner Beteiligung; sie würde gerne gehört haben, wie er selbst darüber denke, und hoffte, daß er Gründe habe, die ihn entlasteten.
Ihre Mutter sagte zu ihrem Vater: »Du hast den Anschluß an diese Sache versäumt. Es wäre für Gerda gut gewesen und hätte sie auf andere Gedanken gebracht; eine Menge Leute verkehren bei Tuzzis.« Es war herausgekommen, daß er die Einladung Sr. Erlaucht zu beantworten verabsäumt hatte. Er hatte zu leiden.
Die jungen Leute, die Gerda ihre Freundgeister nannte, hatten sich in seinem Haus festgesetzt wie die Freier der Penelope und berieten darin, was ein junger und deutscher Mensch angesichts der Parallelaktion zu tun habe. »Ein Finanzmann muß unter Umständen den Sinn eines Mäzens zeigen!« verlangte Frau Klementine von ihm, wenn er heftig beteuerte, daß er Hans Sepp, den »Seelenführer« Gerdas nicht für sein gutes Geld seinerzeit als Hauslehrer aufgenommen habe, damit nun das daraus entstünde! Denn so war es: Hans Sepp, der Student, der nicht die geringste Aussicht auf eine Versorgung bot, war als Lehrer ins Haus gekommen und hatte sich durch nichts als die darin herrschenden Gegensätze zum Tyrannen aufgeworfen; nun beriet er mit seinen Freunden, die Gerdas Freunde geworden waren, bei Fischels, wie man den deutschen Adel retten solle, der bei Diotima (von der es hieß, daß sie keinen Unterschied zwischen rasseneigenen und rassenfremden Personen mache) in die Netze des Judengeistes fiel. Und wenn das auch in Leo Fischels Gegenwart gewöhnlich nur mit einer gewissen schonenden Sachlichkeit erörtert wurde, zeitigte es noch genug Worte und Grundsätze, die ihm auf die Nerven fielen. Man beunruhigte sich darüber, daß in einem Jahrhundert, dem es nicht gegeben sei, große Symbole hervorzubringen, ein solcher Versuch gemacht werde, der zur vollendeten Katastrophe führen müsse, und die Worte hochbedeutsam, Empormenschlichung und freie Menschbarkeit machten allein schon
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