Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Meinung sagen konnte. Aber sie durften nicht da sitzen bleiben, wo sie saßen, das überlegte sie zwischendurch, denn jeden Augenblick konnten Gäste aufbrechen oder aus anderen Gründen ins Vorzimmer kommen. »Sie sind voll Kritik, ich erinnere mich nicht, daß Sie je etwas gut gefunden hätten« fuhr sie fort; »aus Opposition loben Sie alles, was heute unerträglich ist. Wenn man angesichts der toten Wüste unserer entgötterten Zeit sich ein wenig Gefühl und Intuition retten möchte, kann man sicher sein, daß Sie das Spezialistentum, die Unordnung, das negative Sein schwärmerisch verteidigen!« Sie stand dabei lächelnd auf und gab ihm zu verstehen, daß sie einen anderen Platz suchen müßten. Sie konnten nur in die Zimmer zurückkehren oder, wenn sie das Gespräch fortsetzen wollten, sich vor den anderen verstecken; das Tuzzische Schlafzimmer wäre wohl durch eine Tapetentüre auch von dieser Seite zu erreichen gewesen, aber es kam Diotima doch zu vertraut vor, ihren Vetter dorthin zu führen, zumal beim Ausräumen der Wohnung für den Empfang jedesmal eine unberechenbare Unordnung in diesem Raum angehäuft wurde, und so blieben als Zuflucht nur die beiden Mägdekammern übrig. Der Gedanke, daß es eine lustige Mischung von Zigeunerei und Aufsichtspflicht sei, Rachels Zimmer, das sie sonst nie betrat, einmal unerwartet zu besichtigen, entschied. Im Gehen und während sie den Vorschlag entschuldigte und dann in der Kammer sprach sie weiter auf Ulrich ein: »Man gewinnt den Eindruck, daß Sie Arnheim bei jeder Gelegenheit konterminieren wollen. Ihr Widerspruch schmerzt ihn. Er ist ein großer Fall des heutigen Menschen. Er hat und braucht darum den Anschluß an die Wirklichkeit. Sie sind dagegen immer auf dem Sprung ins Unmögliche. Er ist Bejahung und ganz ausgeglichen; Sie sind eigentlich asozial. Er strebt nach Einheit, ist bis in die Fingernägel um Entscheidung bemüht; Sie setzen eine formlose Gesinnung dagegen. Er hat Sinn für Gewordenes; Sie aber? Was tun Sie? Sie tun, als ob die Welt erst morgen anfangen sollte. So sprechen Sie doch?! Vom ersten Tag an, gleich als ich Ihnen sagte, daß uns eine Gelegenheit geboten sei, Großes zu tun, haben Sie sich so gegeben. Und wenn man diese Gelegenheit als ein Schicksal ansieht und im entscheidenden Augenblick zusammengeführt worden ist und sozusagen mit schweigend fragendem Auge auf Antwort wartet, gebärden Sie sich recht wie ein böser Junge, der stören will!« Sie hatte das Bedürfnis, durch gescheite Worte die verfängliche Situation in dieser Kammer zu unterdrücken, und indem sie ihren Vetter etwas übertrieben auszankte, gewann sie Mut zu dieser Situation.
»Und wenn ich so bin, wozu können Sie mich verwenden?« fragte Ulrich. Er saß auf Rachels, der kleinen Zofe, kleinem Eisenbett, und Diotima saß auf dem kleinen Strohstuhl, eine Armlänge vor ihm. Aber da erhielt er von Diotima eine bewundernswerte Antwort. »Wenn ich mich einmal vor Ihnen« sagte sie unvermittelt »ganz gemein und schlecht benehmen könnte, würden Sie sicher wundervoll wie ein Erzengel sein!« Sie erschrak selbst darüber. Sie hatte bloß seine Widerspruchslust bezeichnen und den Scherz machen wollen, daß er gut und lieb sein würde, wenn man es nicht verdiente; aber unbewußt war dabei eine Quelle aufgesprungen und hatte Worte zum Vorschein gebracht, die ihr, nachdem sie ausgesprochen waren, sofort etwas sinnlos vorkamen und doch überraschenderweise ihr und ihrer Beziehung zu diesem Vetter anzugehören schienen.
Dieser fühlte es; er sah sie schweigend an, und nach einer Pause erwiderte er mit der Frage: »Sind Sie sehr, sind Sie maßlos in ihn verliebt?«
Diotima blickte zu Boden. »Was gebrauchen Sie für ungehörige Worte! Ich bin doch kein Backfisch, der sich verschossen hat!«
Aber ihr Vetter beharrte. »Ich frage aus einem Grund, den ich ungefähr angeben kann: ich will wissen, ob Sie schon das Verlangen kennengelernt haben, daß alle Menschen – ich denke dabei auch an die ärgsten Scheusale, die nebenan in Ihrem Zimmer sind – sich nackt ausziehen, einander die Arme um die Schultern schlingen und statt zu reden singen möchten; Sie aber müßten sodann von einem zum andern gehen und ihn schwesterlich auf die Lippen küssen. Wenn Sie es für zu anstößig halten, kann ich vielleicht Nachthemden zugestehen.«
Diotima erwiderte auf jeden Fall: »Sie geben sich mit netten Vorstellungen ab!«
»Aber sehen Sie, ich, ich kenne dieses Verlangen, wenn es auch lange
Weitere Kostenlose Bücher