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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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her ist! Es hat doch sehr angesehene Leute gegeben, die behauptet haben, so sollte es eigentlich auf der Welt zugehen!«
    »Dann sind Sie selbst schuld, wenn Sie es nicht tun!« fiel ihm Diotima ins Wort. »Man braucht es außerdem nicht so lächerlich auszumalen!« Sie hatte sich daran erinnert, daß ihr Abenteuer mit Arnheim unbezeichenbar sei und das Verlangen nach einem Leben weckte, wo die sozialen Unterschiede verschwinden und Tätigkeit, Seele, Geist und Traum eines sein sollten.
    Ulrich erwiderte nichts. Er bot seiner Kusine eine Zigarette an. Sie nahm sie. Wie die Duftwolken das »enge Kämmerlein« füllten, überlegte Diotima, was sich Rachel denken werde ‚wenn sie die verhauchten Spuren dieses Besuchs finden wird. Sollte man lüften? Oder am kommenden Morgen der Kleinen Aufklärung geben? Merkwürdigerweise bewog sie gerade der Gedanke an Rachel zum Bleiben; sie war schon nahe daran gewesen, das allzu sonderbar werdende Beisammensein aufzuheben, aber die Vorrechte geistiger Überlegenheit und der für ihre Zofe unerklärliche Zigarettenduft eines geheimnisvollen Besuchs wurden irgendwie das gleiche und bereiteten ihr Vergnügen.
    Ihr Vetter betrachtete sie. Es wunderte ihn, daß er so zu ihr gesprochen hatte, aber er fuhr fort; er sehnte sich nach Gesellschaft. »Ich will Ihnen sagen,« nahm er wieder das Wort »unter welchen Bedingungen ich so seraphisch sein könnte; denn seraphisch ist wohl kein zu großer Ausdruck dafür, daß man seinen Nebenmenschen nicht bloß körperlich erträgt, sondern sich ihm sozusagen bis unter den psychologischen Lendenschurz auch anfühlen kann, ohne einen Schauder zu empfinden.«
    »Ausgenommen, er ist eine Frau!« schaltete Diotima in Erinnerung des üblen Rufes ein, den ihr Vetter in der Familie genoß.
    »Auch das nicht ausgenommen!«
    »Sie haben recht! Was ich den Menschen in der Frau lieben nenne, kommt ungeheuer selten vor!« Ulrich hatte nach Diotimas Auffassung seit einiger Zeit die Eigenschaft, daß seine Aussichten den ihren nahe kamen, aber es blieb doch immer verfehlt und nicht ganz ausreichend, was er sagte.
    »Ich will es Ihnen ernst beschreiben« sagte er diesmal hartnäckig. Er saß vorgebeugt, hatte die Unterarme auf die muskulösen Schenkel gelegt und blickte finster zu Boden. »Wir sagen heute noch: ich liebe diese Frau, und ich hasse jenen Menschen, statt zu sagen, sie ziehen mich an oder stoßen mich ab. Und um einen Schritt genauer müßte man hinzufügen, daß ich es bin, der in ihnen die Fähigkeit erweckt, mich anzuziehen oder abzustoßen. Und noch um einen Schritt genauer müßte man dem hinzufügen, daß sie in mir die Eigenschaften hervorkehren, die dazu gehören. Und so weiter; man kann nicht sagen, wo da der erste Schritt geschieht, denn das ist eine gegenseitige, eine funktionale Abhängigkeit so wie zwischen zwei elastischen Bällen oder zwei geladenen Stromkreisen. Und wir wissen natürlich längst, daß wir auch so fühlen müßten, aber wir ziehen es noch immer beiweitem vor, die Ursache und Ur-Sache in den Kraftfeldern des Gefühls zu sein, die uns umgeben; selbst wenn unsereiner zugibt, er mache einen anderen nach, drückt er es so aus, als ob das eine aktive Leistung wäre! Darum habe ich Sie gefragt und frage Sie noch einmal, ob Sie schon je maßlos verliebt oder zornig oder verzweifelt gewesen sind. Denn dann begreift man bei einiger Beobachtungsgabe ganz genau, daß es einem mitten in der höchsten Erregung seiner selbst nicht anders geht wie einer Biene am Fenster oder einem Infusorium in vergiftetem Wasser: man erleidet einen Bewegungssturm, man fährt blind nach allen Seiten, man schlägt hundertmal gegen das Undurchdringliche und einmal, wenn man Glück hat, durch eine Pforte ins Freie, was man sich natürlich hinterdrein, in erstarrtem Bewußtseinszustand, als planvolle Handlung auslegt.«
    »Ich muß Ihnen einwenden,« bemerkte Diotima »daß das eine trostlose und unwürdige Auffassung von Gefühlen wäre, die das ganze Leben eines Menschen zu entscheiden vermögen.«
    »Es schwebt Ihnen vielleicht die alte, langweilig gewordene Streitfrage vor, ob der Mensch Herr seiner selbst sei oder nicht« entgegnete Ulrich, rasch aufblickend. »Wenn alles eine Ursache hat, dann kann man für nichts, und dergleichen? Ich muß Ihnen gestehn, daß mich das in meinem ganzen Leben nicht eine Viertelstunde lang interessiert hat. Es ist die Fragestellung einer Zeit, die unmerklich überholt worden ist; sie kommt von der Theologie, und

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