Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
eigenen heftigen Bemerkungen zu schließen, wurde von Arnheim beschäftigt. »Und wie er ihn mißversteht,« dachte sie noch einmal »man kann nicht dagegen aufkommen!« Übrigens lehnte sich jetzt nicht nur ihre Seele gegen ihren an Sektionschef Tuzzi verheirateten Körper auf, sondern zuweilen lehnte sich auch ihr Körper gegen die Seele auf, die durch Arnheims zögernde und übersteigernde Liebe am Rand einer Wüste schmachtete, über der vielleicht nur eine täuschende Spiegelung der Sehnsucht zitterte. Sie hätte ihr Leid und ihre Schwäche mit ihrem Vetter teilen mögen; die entschlossene Einseitigkeit, die er gewöhnlich an den Tag legte, gefiel ihr. Arnheims ausgeglichene Vielseitigkeit war ja gewiß höher zu stellen, aber Ulrich würde im Augenblick einer Entscheidung nicht so schwanken, trotz seiner Theorien, die alles am liebsten ins völlig Unbestimmte aufgelöst hätten. Das fühlte sie und wußte nicht, woran; wahrscheinlich gehörte es zu dem, was sie von Anfang ihrer Bekanntschaft an für ihn gefühlt hatte. Wenn ihr in diesem Augenblick Arnheim als eine ungeheure Anstrengung, eine königliche Bürde ihrer Seele vorkam, eine Bürde, die ihre Seele nach allen Richtungen überragte, so schien ihr alles, was Ulrich sagte, einzig und allein die Wirkung zu haben, daß man über hunderterlei Beziehungen die der Verantwortung verlor und in einen verdächtigen Zustand der Freiheit geriet. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, sich schwerer zu machen, als sie war; und nicht recht zu sagen wodurch, aber es erinnerte sie gleichzeitig daran, wie sie als Mädchen einmal einen kleinen Knaben auf ihren Armen aus einer Gefahr getragen, und er hatte sie eigensinnig mit den Knien immerzu gegen den Bauch gestoßen, um sich dagegen zu wehren. Die Kraft dieser Erinnerung, die ihr so unvorhergesehen eingefallen war, als wäre sie durch den Schornstein in das einsame kleine Zimmer gefahren, brachte sie ganz aus dem Gleichgewicht. »Maßlos?« dachte sie. Warum frug er sie immerzu danach? Als ob sie nicht maßlos sein könnte?! Sie hatte vergessen, ihm zuzuhören, sie wußte nicht, ob es am Platz sei oder nicht, sie unterbrach ihn einfach, schob alles fort, was er sprach, und gab ihm auf alles und ein für allemal und lachend (nur daß ihr vorkam, sie lache, war in der plötzlichen planlosen Aufregung nicht ganz verläßlich) die Antwort: »Aber ich bin ja maßlos verliebt!«
Ulrich lächelte ihr ins Gesicht. »Das können Sie gar nicht« sagte er.
Sie war aufgestanden, hatte die Hände am Haar, sah ihn mit erstaunt stehenbleibenden Augen an.
»Um maßlos zu sein,« erklärte er ruhig »muß man ganz genau und sachlich sein. Zwei Ich, die es wissen, wie fraglich Ich heute ist, halten sich aneinander, so stelle ich mir das vor, wenn es durchaus Liebe sein muß, und nicht bloß eine übliche Betätigung; sie sind so ineinander verkettet, daß eines die Ursache des anderen ist, wenn sie fühlen, ins Große verändert zu werden, und treiben wie ein Schleier. Da ist es ungeheuer schwer, keine falschen Bewegungen zu machen, selbst wenn man eine Zeitlang schon die richtigen hat. Es ist einfach schwer, in der Welt das Richtige zu fühlen! Ganz entgegen einem allgemeinen Vorurteil, gehört beinahe Pedanterie dazu. Übrigens habe ich Ihnen gerade das sagen wollen. Sie haben mir sehr geschmeichelt, Diotima, als Sie mir die Möglichkeit eines Erzengels zusprachen; bei aller Bescheidenheit, wie Sie gleich sehen werden. Denn nur wenn Menschen ganz sachlich wären – und das ist ja beinahe dasselbe wie unpersönlich –, dann wären sie auch ganz Liebe. Weil sie nur dann auch ganz Empfindung und Gefühl und Gedanke wären; und alle Elemente, die den Menschen bilden, sind zärtlich, denn sie streben zueinander, nur der Mensch selbst ist es nicht. Maßlos verliebt sein, ist also etwas, das Sie vielleicht gar nicht möchten…!«
Er hatte versucht, das möglichst unfeierlich zu sagen; er zündete sich zur Regelung des Gesichtsausdrucks sogar eine neue Zigarette an, und auch Diotima nahm aus Verlegenheit eine, die er ihr anbot. Sie machte eine spaßhaft trotzige Miene und blies den Rauch in die Luft, um ihre Unabhängigkeit zu zeigen, denn sie hatte ihn nicht ganz verstanden. Aber in seiner Gänze als Geschehnis wirkte es doch lebhaft auf sie, daß ihr Vetter alles das mit einemmal gerade in dieser Kammer, wo sie allein waren, zu ihr sagte und sich dabei nicht die kleinste gewöhnliche Mühe gab, ihre Hand zu fassen oder ihr Haar zu
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