Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
einwandfrei ausgedrückt, aber im Grund hat er ganz recht! Immer wird etwas Neues gemacht, kaum daß eine neue Zeit angefangen hat, und nie kommt etwas G'scheites heraus!« Die Nervosität, die der verfehlte Verlauf der Parallelaktion hervorrief, war durchgebrochen. Graf Leinsdorf drehte jetzt statt des Bartes gereizt einen Daumen um den anderen, ohne es zu gewahren. Vielleicht war auch die Abneigung gegen Arnheim durchgebrochen. Denn als Ulrich angefangen hatte von Seele zu sprechen, war Graf Leinsdorf sehr verwundert gewesen, aber was er dann hörte, gefiel ihm ganz gut. »Daß solche Leute wie der Arnheim so viel von ihr reden,« dachte er »ist ja doch nur Pflanz; das braucht man nicht, dafür ist schon die Religion da.« Aber auch Arnheim war bis in die Lippen blaß geworden. In einem solchen Ton wie jetzt mit ihm hatte Graf Leinsdorf bisher nur zum General gesprochen. Er war nicht der Mann sich das bieten zu lassen! Aber unwillkürlich hatte die Entschiedenheit, mit der Se. Erlaucht an die Seite Ulrichs getreten war, Eindruck auf ihn gemacht und rief nun wieder seine eigenen schmerzlichen Empfindungen für diesen wach. Es verwirrte ihn, daß er sich mit Ulrich aussprechen wollte und doch nicht die Gelegenheit dazu gefunden hatte, ehe es nun zu einem Zusammenstoß vor allen kommen mußte; und gerade auf diese Weise geschah es, daß er sich nicht gegen Graf Leinsdorf wandte, den er einfach beiseite ließ, sondern mit allen Zeichen heftiger körperlicher Erregung, die man an ihm nicht zu sehen gewohnt war, das Wort an Ulrich richtete. »Glauben Sie denn selbst an alles, was Sie gesagt haben?!« fragte er streng und alle Rücksicht der Höflichkeit übergehend. »Glauben Sie an die Durchführbarkeit? Sind Sie wirklich der Meinung, daß man bloß nach ‚Gesetzen der Analogie‘ leben könne? Was würden Sie also tun, wenn Ihnen nun Seine Erlaucht völlig freie Hand ließe?! Sagen Sie es doch, ich bitte Sie eindringlich darum!«
Der Augenblick war peinlich. Diotima fiel merkwürdigerweise eine Geschichte ein, die sie vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Eine Frau war zu einer furchtbaren Strafe verurteilt worden, weil sie ihrem Geliebten die Gelegenheit geboten hatte, ihren alten Mann umzubringen, der seit Jahren die Ehe nicht mehr »vollzog« und doch in keine Trennung willigte. Dieser Vorfall hatte durch seine fast medizinische Körperlichkeit und eine gewisse gegensätzliche Anziehung ihre Aufmerksamkeit erregt; wie die Verhältnisse lagen, war alles so verständlich, daß man keine der Personen als schuldig empfand, in ihrer beschränkten Möglichkeit, sich zu helfen, sondern irgendwie ein widernatürliches Ganzes, das solche Zustände schuf. Sie begriff nicht, warum sie gerade daran jetzt denken mußte. Aber sie dachte auch daran, daß Ulrich in der letzten Zeit zu ihr viel »Schwankendes und Schwebendes« gesprochen habe, und ärgerte sich, weil er immer gleich eine Unverschämtheit damit verband. Und sie selbst hatte davon gesprochen, daß in bevorzugten Menschen die Seele aus ihrer Uneigentlichkeit hervorzutreten vermöchte, und darum kam ihr vor, daß ihr Vetter genau so unsicher sei wie sie selbst und vielleicht ebenso leidenschaftlich. Und das alles war in ihrem Kopf oder in ihrem Busen, dem verlassenen Sitz der gräflich Leinsdorfischen Freundschaft, augenblicklich mit der Geschichte der verurteilten Frau in einer Weise verflochten, daß sie mit geöffneten Lippen dasaß und das Gefühl hatte, es werde etwas Furchtbares geschehen, wenn man Arnheim und Ulrich gewähren lasse, aber vielleicht erst recht, wenn man nicht gewähren lasse und sich einmenge.
Ulrich aber hatte, während Arnheim ihn angriff, Sektionschef Tuzzi angesehn. Tuzzi verbarg nur mit Mühe eine fröhliche Neugierde zwischen den braunen Falten seines Gesichts. Nun komme ja, wie es scheine, das Getue in seinem Hause an seinen eigenen Gegensätzen zum Zerspringen, dachte er. Er hatte auch für Ulrich kein Mitgefühl; was dieser Mensch redete, ging ihm ganz gegen die Natur, denn er war überzeugt, daß der Wert eines Mannes im Willen liege, oder im Beruf, und jedenfalls nicht in Gefühlen und Gedanken, und schon gar über Gleichnisse solchen Unsinn zu sprechen, fand er geradezu unanständig. Vielleicht ahnte Ulrich etwas davon, denn es fiel ihm ein, daß er Tuzzi einmal angekündigt habe, er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche; er hatte das nicht gerade mit diesen Worten gesagt, aber
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