Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
sagen; aber das eine darf ich behaupten, daß nirgends die Außenpolitik so schwierig ist wie bei uns. Es läßt sich einigermaßen voraussehen, daß die Politik der Franzosen auch im Jubiläumsjahr von den Gedanken der Revanche und des Kolonialbesitzes geleitet sein wird, die der Engländer von ihrem Bauernschach auf dem Weltbrett, wie man die Art ihres Vorgehens genannt hat, endlich die der Deutschen von dem, was sie in einer nicht immer eindeutigen Weise ihren Platz an der Sonne nennen: aber unsere alte Monarchie ist bedürfnislos, und darum weiß kein Mensch vorher, zu welchen Auffassungen wir bis dahin gezwungen werden können!« Es schien, daß Tuzzi bremsen und warnen wollte. Er redete offenbar ohne ironische Absicht; das Aroma der Ironie ging lediglich von der naiven Sachlichkeit aus, in deren trockener Schale er die Überzeugung darbot, daß weltliche Bedürfnislosigkeit eine große Gefahr sei. Ulrich fühlte sich davon ermuntert, als ob er auf eine Kaffeebohne gebissen hätte. Inzwischen hatte sich Tuzzi in seiner warnenden Absicht aber noch versteift und führte seine Rede zu Ende. »Wer darf sich heute« fragte er »denn überhaupt trauen, große politische Ideen zu verwirklichen?! Er müßte ein Stück Verbrecher und Bankerotteur in sich haben! Das wollen Sie doch nicht? Diplomatie ist dazu da, um zu konservieren.«
»Das Konservieren führt zum Krieg« erwiderte Arnheim.
»Das kann schon sein« meinte Tuzzi. »Wahrscheinlich bleibt es das einzige, was man tun kann, daß man den Augenblick, wo man hineingeführt wird, günstig wählt! Erinnern Sie sich an die Geschichte Alexanders des Zweiten? Sein Vater Nikolai war ein Despot, aber er ist eines natürlichen Todes gestorben; Alexander dagegen war ein hochherziger Herrscher, der seine Regierung sogleich mit liberalen Reformen begann; die Folge war, daß aus dem russischen Liberalismus der russische Radikalismus geworden ist und Alexander nach drei vergeblichen Mordversuchen einem vierten zum Opfer fiel.«
Ulrich sah Diotima an. Aufgerichtet, aufmerksam, ernst und üppig saß sie da und bekräftigte die Worte ihres Gatten. »Das ist richtig. Ich habe vom geistigen Radikalismus auch bei unseren Bestrebungen den Eindruck gewonnen: wenn man ihm einen Finger reicht, will er gleich die ganze Hand.«
Tuzzi lächelte; es kam ihm vor, er habe einen kleinen Sieg über Arnheim davongetragen.
Arnheim saß ungerührt dabei, die Lippen wie eine aufgesprungene Knospe atmend geöffnet. Wie ein verschlossener Turm des Fleisches sah Diotima über ein tiefes Tal zu ihm hinüber.
Der General putzte seine Hornbrille.
Ulrich sagte langsam: »Das kommt nur davon, daß die Bemühungen aller, die sich berufen fühlen, den Sinn des Lebens wiederherzustellen, heute das eine gemeinsam haben, daß sie dort, wo man nicht bloß persönliche Ansichten, sondern Wahrheiten gewinnen könnte, das Denken verachten; dafür legen sie sich dort, wo es auf die Unerschöpflichkeit der Ansichten ankommt, auf Schnellbegriffe und Halbwahrheiten fest!«
Niemand antwortete darauf. Warum hätte auch jemand antworten sollen? Was man so spricht, sind doch nur Worte. Das Tatsächliche war, daß sie zu sechs Personen in einem Zimmer saßen und eine wichtige Unterredung hatten; was sie dabei redeten und auch was sie nicht redeten, gar aber Gefühl, Ahnung, Möglichkeit war in dieser Tatsächlichkeit eingeschlossen, ohne ihr gleichgestellt zu sein, es war etwa so darin eingeschlossen, wie es die dunklen Bewegungen von Leber und Magen in einer angekleideten Person sind, die soeben ihre Unterschrift unter eine wichtige Urkunde setzt. Und diese Rangordnung durfte man nicht verletzen, darin bestand die Wirklichkeit!
Ulrichs alter Freund Stumm war jetzt mit der Klärung seiner Brille fertig, setzte sie auf und sah ihn an.
Obgleich Ulrich mit allen diesen Personen immer nur gespielt zu haben glaubte, fühlte er sich mit einemmal sehr verlassen zwischen ihnen. Er erinnerte sich, vor einigen Wochen oder Monaten etwas Ähnliches gefühlt zu haben wie in diesem Augenblick: Widerstreben eines kleinen entlassenen Atemzuges der Schöpfung gegen die versteinte Mondlandschaft, in die er hineingerät; und es wollte ihm scheinen, daß alle entscheidenden Augenblicke seines Lebens von einem solchen Eindruck des Staunens und der Einsamkeit begleitet worden waren. Aber war es dieses Mal Angst, was ihn dabei belästigte? Er vermochte sich über sein Gefühl nicht klarzuwerden; es sagte ihm ungefähr, daß er sich noch
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