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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Laken in einem Lichtschacht verschwinden. Dann überlegte er lange vergeblich, wie man nachts an den Figuren und Gesimsen einer Hauswand hinab- und emporklettern könnte, und sah tagsüber auf seinen Wegen von der Architektur der ihrethalben berühmten Stadt nichts als ihre touristischen Vorteile und Schwierigkeiten; Rachel aber, der er kurz und flüsternd diese Pläne und ihre Hindernisse anvertraute, glaubte, wenn sie abends ihr Licht auslöschte, nicht selten zu Füßen der Mauer den schwarzen Vollmond seines Gesichts auftauchen zu sehn oder hörte ein zirpendes Rufen, dem sie schüchtern Antwort gab, weit aus dem Fenster ihrer Kammer in die leere Nacht gebeugt, ehe sie eben deren Leere einsehen mußte. Sie war aber nicht mehr ungehalten über diese romantischen Störungen, sondern gab sich ihnen mit schmachtender Trauer hin. Dieses Schmachten galt eigentlich Ulrich, und Soliman war der Mann, den man nicht liebt, dessen ungeachtet man sich ihm hingeben wird, worüber sich Rachel durchaus nicht im Zweifel befand; denn daß man sie mit ihm nicht zusammenkommen ließ, daß sie in letzter Zeit ihre Stimmen kaum laut hörten und Ungunst ihrer Oberen über sie gemeinsam hereingebrochen war, wirkte ähnlich, wie eine Nacht voll Ungewißheit, Unheimlichkeiten und Seufzern auf Liebende wirkt, und sammelte ihre glühenden Vorstellungen wie ein Brennglas, unter dessen Strahl man weniger eine angenehme Wärme fühlt, als daß man es nicht länger aushält.
    Und hierin war Rachel, die sich nicht mit Strickleitern und Kletterträumen ablenkte, die Praktischere. Aus der Nebelgestalt einer Entführung auf Lebensdauer war bald eine heimlich zu verschaffende Nacht und aus der Nacht, da auch sie unerreichbar blieb, eine unbewachte Viertelstunde geworden; und schließlich dachten weder Diotima noch Graf Leinsdorf oder Arnheim daran, wenn ihr »Amt« sie bewog, nach großen und erfolglosen Versammlungen des Geistes besorgte Überlegungen des Ergebnisses auszutauschen, die sie oft noch eine Stunde lang, bar jedes anderen Bedürfnisses, festhielten, daß eine solche Stunde aus vier Viertelstunden besteht. Aber Rachel hatte das berechnet, und weil die Köchin noch immer nicht ganz auf dem Posten war und die Erlaubnis besaß, sich früh zur Ruhe zu begeben, genoß ihre jüngere Kollegin den Vorzug, so viel zu tun zu haben, daß man nie wissen konnte, wo sie sich gerade aufhielt, und wurde im Zimmerdienst während dieser Zeit nach Möglichkeit geschont. Zur Probe – immerhin bloß so, wie Personen, die zu feig zum Selbstmord sind, so lange vorgespiegelte Versuche unternehmen, bis ihnen einer aus Versehen gelingt – hatte sie schon einige Male Soliman eingeschmuggelt, der mit einer dienstbeflissenen Ausrede für den Fall seiner Entdeckung ausgerüstet war, und hatte ihm zu verstehen gegeben, daß dieser Weg in ihre Kammer auch möglich wäre, und nicht nur der an der Hauswand empor. Über gemeinsames Gähnen im Vorzimmer und lauschende Beobachtung der Lage war das junge Liebespaar aber noch nicht hinausgekommen, bis eines Abends, wo die Stimmen im Zimmer so gleichmäßig einander folgten wie die Töne beim Dreschen, Soliman mit einer wunderschönen Romanphrase erklärte, daß er sich nicht mehr länger zu gedulden vermöge.
    Auch in der Kammer war es noch er, der den Riegel vorschob; aber dann trauten sie sich nicht, Licht zu machen, und standen zuerst blind vor einander, irgendwie zugleich mit dem Augenlicht aller Sinne beraubt, wie Statuen in einem dunklen Park. Soliman dachte wohl daran, Rachels Hand zu pressen oder sie ins Bein zu zwicken, damit sie aufschreie, denn so beschaffen waren bisher seine männlichen Siege gewesen, aber er mußte sich Zwang auferlegen, denn sie durften keinen Lärm machen, und als er doch schüchtern einen kleinen rohen Versuch unternahm, strömte aus Rachel bloß ungeduldige Gleichgültigkeit zu ihm zurück. Denn Rachel spürte die Hand des Geschicks, die sie im Kreuz anfaßte und vorwärts schob, während ihr Nase und Stirn eiskalt wurden, als wäre sie schon jetzt von allen ihren Einbildungen verlassen. Da fühlte sich auch Soliman gänzlich von sich verlassen und bis in die Knochen ungeschickt, und es ließ sich nicht absehen, wie das dunkle voreinander Stehen ein Ende finden solle. Schließlich mußte eben die edle, aber etwas erfahrenere Rachel doch den Verführer machen. Und dabei kam ihr der Groll zu Hilfe, den sie gegen Diotima an Stelle der früheren Liebe empfand, denn seit sie sich nicht mehr

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