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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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schüttelte das Haupt. »Was fallt Ihnen denn ein!« entschied er leutselig. »Darüber täten sich die nur freuen, weil es so aussehen möchte, als ob wir Angst hätten. Und außerdem sind ja alle die Wächter da, die uns die Polizei geschickt hat!« Zu Ulrich aber wandte er sich und sagte im Ton moralischer Kränkung. »Sollen sie uns nur die Fenster einschlagen! Ich hab es ja gesagt, daß bei den gescheiten Männern nichts herauskommen wird!« Ein tiefer Groll schien in ihm zu arbeiten, den er unter würdiger Ruhe verbarg.
    Ulrich war ans Fenster getreten, als der Zug aufzog. An den Straßenrändern schritten Schutzleute mit und stoben Unbeteiligte wie eine Wolke aus dem Weg, die der geschlossene Marschtritt aufwirbelte. Weiterhin stand da und dort schon eingekeiltes Fuhrwerk fest, um das der gebieterische Strom in unabsehbaren schwarzen Wellen floß, auf denen man den aufgelösten Gischt der hellen Gesichter tanzen fühlte. Als die Spitze der Marschierenden des Palais ansichtig wurde, schien es, daß irgend ein Befehl die Schritte mäßige, eine Stauwelle lief nach hinten, die anrückenden Reihen keilten sich ineinander, und es entstand ein Bild, das einen Augenblick lang an einen Muskel erinnerte, der sich vor dem Schlag verdickt. Im nächsten Augenblick sauste dieser Schlag durch die Luft und sah wunderlich genug aus, denn er bestand aus einem Schrei der Entrüstung, von dem man früher die aufgerissenen Münder sah, als man den Laut hörte. Schlag um Schlag klappten die Gesichter in dem Augenblick auf, wo sie auf den Plan traten, und da das Geschrei der weiter Entfernten von dem der inzwischen nahe Gekommenen übertönt wurde, konnte man bei fern gerichtetem Blick dieses stumme Schauspiel sich immer wiederholen sehn.
    »Der Rachen des Volks!« sagte Graf Leinsdorf, der für einen Augenblick hinter Ulrich getreten war, mit großem Ernst, als ob das ein so feststehendes Wort wäre wie das tägliche Brot. »Aber was schreien sie eigentlich? Ich kann es bei dem Lärm nicht verschrien.
    Ulrich meinte, daß sie hauptsächlich »Pfui!« schrien.
    »Ja, aber es ist noch etwas dabei?«
    Ulrich sagte ihm nicht, daß unter den dunkel tanzenden Lauten des Pfui nicht selten der langgezogene helle Ruf »Nieder mit Leinsdorf!« zu hören war; er glaubte sogar einigemale unter abwechselndem »Heil« auf Deutschland auch ein »Hoch Arnheim!« vernommen zu haben, war da aber selbst seiner Sache nicht sicher, weil das kräftige Fensterglas den Schall undeutlich machte.
    Ulrich war sogleich, nachdem Gerda davongelaufen war, hieher gegangen, denn er fühlte das Bedürfnis, wenigstens Graf Leinsdorf mitzuteilen, was ihm zu Ohren gekommen war und Arnheim über Erwarten bloßstellte; aber er hatte davon bisher noch nichts über die Lippen gebracht. Er sah in die dunkle Bewegung unter dem Fenster, und eine Erinnerung an seine Offizierszeit erfüllte ihn mit Verachtung, denn er sagte zu sich: »Mit einer Kompagnie Soldaten würde man diesen Platz leerfegen!« Er sah es beinahe vor sich, als wären die drohenden Mäuler ein einziger geifernder Mund, in dessen Furchtbarkeit sich plötzlich der Schreck schlich; die Ränder wurden schlaff und verzagt, die Lippen sanken zögernd über die Zähne; und mit einemmal verwandelte seine Phantasie die drohende schwarze Menge in stiebendes Hühnervolk, zwischen das der Hund gefahren ist! Das geschah in ihm, als ob sich alles Böse noch einmal hart zusammengekrampft hätte, aber die alte Genugtuung, das Zurückweichen des sittlich bewegten vor dem empfindungslos gewalttätigen Menschen zu beobachten, war wie immer eine zweischneidige Empfindung.
    »Was haben Sie denn?« fragte Graf Leinsdorf, der hinter Ulrich hin und her ging und durch eine sonderbare Bewegung wirklich den Eindruck empfing, es habe sich dieser an einer scharfen Schneide wehgetan, wozu weit und breit keine Möglichkeit vorhanden war; und als er keine Antwort erhielt, blieb er stehen, schüttelte den Kopf und sagte: »Wir dürfen schließlich nicht vergessen, daß der hochherzige Entschluß, durch den Seine Majestät dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten geschenkt hat, noch nicht so lange her ist; da läßt es sich begreifen, daß noch nicht überall eine politische Reife eingetreten ist, wie sie des von höchster Seite großmütig entgegengebrachten Vertrauens in jeder Hinsicht würdig wäre! Ich glaube, daß ich das gleich in der ersten Sitzung gesagt habe!«
    Bei dieser Anrede verzichtete Ulrich auf

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