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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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den Wunsch, Se. Erlaucht oder Diotima von den Ränken Arnheims zu verständigen; trotz aller Gegnerschaft fühlte er sich ihm näher verwandt als den anderen, und die Erinnerung, daß er selbst sich über Gerda hergemacht habe wie ein großer Hund über einen heulenden kleinen –: er wurde jetzt gewahr, daß sie ihn seither unaufhörlich gequält hatte, aber sie ließ darin nach, sobald er an die Niedertracht dachte, die sich Arnheim gegen Diotima herausnahm. Der Geschichte mit dem schreienden Körper, der zwei ungeduldig wartenden Seelen ein Theater vorgemacht hatte, konnte man, wenn man wollte, sogar eine komische Seite abgewinnen; und die Leute hier unten, auf die Ulrich noch immer gebannt hinabsah, ohne sich um Graf Leinsdorf zu kümmern, führten ja auch nur eine Komödie auf! Das war es, was ihn daran fesselte. Sie wollten ganz gewiß niemand angreifen und zerreißen, obgleich sie so aussahen. Sie zeigten sich überaus ernstlich erzürnt, aber das war nicht der Ernst, der feuernden Gewehren entgegentreibt; es war nicht einmal der Ernst der Feuerwehr! »Nein, was sie treiben,« dachte er »ist eher eine kultische Handlung, ein geweihtes Spiel mit beleidigten tiefsten Empfindungen, irgend ein zivilisiert-unzivilisierter Rest von Gemeinschaftshandlungen, die der einzelne nicht bis ins letzte genau zu nehmen braucht!« Er beneidete sie. »Wie angenehm sind sie sogar jetzt noch, wo sie sich möglichst unangenehm zu machen suchen!« dachte er. Der Schutz vor Einsamkeit, den eine Menge gewährt, strahlte von unten herauf, und daß er selbst ohne ihn hier oben stehen mußte – was er einen Augenblick lang so lebhaft empfand, als sähe er sein Bild hinter Glas, wie es in die Hauswand gefügt war, von der Straße aus – kam ihm als der Ausdruck seines Schicksals vor. Dieses Schicksal, fühlte er, wäre ein besseres gewesen, wenn er jetzt in Zorn geraten oder an Graf Leinsdorfs Stelle die bereitgehaltene Wache alarmieren würde, um sich ein andermal mit den gleichen Leuten freundlich einszuwissen; denn wer mit seinen Zeitgenossen Karten spielt, handelt, streitet und Vergnügungen teilt, der darf gelegentlich auch auf sie schießen lassen, ohne daß dies aus der Art schlagen würde. Es gibt eine gewisse Verträglichkeit mit dem Leben, die jeden Menschen das seine tun läßt, ohne sich um ihn zu kümmern, und unter der gleichen Bedingung jedem das ihre antut: daran dachte Ulrich. Und das ist vielleicht eine etwas sonderbare Regel, aber nicht weniger sicher als ein Naturtrieb, denn von ihr geht offenbar die vertrauliche Witterung der menschlichen Wohlgeratenheit aus, und wer diese Fähigkeit des Kompromisses nicht hat, einsam, rücksichtslos und ernst ist, der beunruhigt die anderen in jener ungefährlichen, aber ekelerregenden Weise, wie es eine Raupe tut. Er fühlte sich in diesem Augenblick ganz von der tiefen Abneigung gegen die Unnatürlichkeit eines einsamen Menschen und seine Gedankenexperimente bedrückt, die der bewegte Anblick einer von natürlichen und gemeinsamen Empfindungen aufgewühlten Menge erregen kann.
    Die Demonstration hatte inzwischen an Heftigkeit zugenommen. Graf Leinsdorf ging im Hintergrund des Zimmers aufgeregt hin und her und warf von Zeit zu Zeit einen Blick durch das zweite Fenster. Er schien sehr zu leiden, obgleich er es nicht zeigen wollte; seine hervorstehenden Augen staken wie zwei harte Steinkugeln in den weichen Furchen seines Gesichts, und die hinter dem Rücken verschränkten Arme dehnte er manchmal wie in schweren Anfechtungen. Plötzlich erkannte Ulrich, daß man ihn selbst, der dauernd am Fenster stand, für den Grafen halte. Aller Blicke zielten von unten in sein Gesicht, und Stöcke wurden mit Nachdruck gegen ihn geschwungen. Wenige Schritte weiter, wo der Weg abbog und den Eindruck machte, in der Kulisse zu verschwinden, schminkten sich die meisten schon ab; es wäre unsinnig gewesen, ohne Zuschauer weiter zu drohen, und auf eine Weise, die ihnen ganz natürlich vorkam, verschwand im selben Augenblick die Erregung aus ihrem Gesicht, ja es gab nicht wenige, die lachten und sich fröhlich zeigten wie auf einem Ausflug. Und auch Ulrich, der das beobachtete, lachte, aber die, welche nachkamen, meinten, das sei der lachende Graf, und ihr Zorn steigerte sich furchtbar, und Ulrich lachte nun erst gar über das ganze Gesicht.
    Aber plötzlich brach er mit Ekel ab. Und während sein Auge noch abwechselnd in die drohenden Münder und nach den heiteren Gesichtern sah und die Seele sich

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