Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
beständig als Eidhelfer mißbrauchte, denn Ulrich fühlte sich im gleichen Augenblick unangenehm an die ungewöhnliche Unsicherheit erinnert, die der Arm dieses Mannes in ihm erweckt hatte, als er auf seiner Schulter lag. Er war inzwischen unter den Bäumen hervor an den Rand des Straßenzuges gekommen und suchte nach einem Weg, der ihn in die Richtung seiner Wohnung leiten sollte. Nach den Namen der Gassen spähend, wäre er aber beinahe in einen Schatten hineingerannt, der sich löste, und er mußte hastig seinen Schritt hemmen, um die Prostituierte nicht umzustoßen, die ihm in den Weg getreten war. Da stand sie nun und lächelte, statt ihren Ärger darüber zu zeigen, daß er sie fast wie ein Büffel überrannt hatte, und Ulrich fühlte plötzlich, daß dieses geschäftsmäßige Lächeln in der Nacht eine kleine Wärme verbreitete. Sie sagte einige Worte; sie sprach ihn mit den abgegriffenen Worten an, die locken wollen und wie der schmutzige Rest von allen Männern sind. »Komm mit mir, Kleiner!« sagte sie oder etwas Ähnliches. Ihre Schultern fielen wie die eines Kindes ab, unter dem Hut quoll ein wenig blondes Haar hervor, und im Laternenschein war von ihrem Gesicht etwas Blasses, unregelmäßig Liebliches zu sehen; unter der Nachtbemalung mochte die Haut eines noch jungen Mädchens mit vielen Sommersprossen verborgen sein. Sie sah zu ihm empor und war viel kleiner als Ulrich, trotzdem sagte sie noch einmal »Kleiner« zu ihm und fand in ihrer Teilnahmlosigkeit nichts Unpassendes an dieser Lautverbindung, die sie hunderte Male an einem Abend von sich gab.
    Ulrich fühlte sich davon gerührt. Er schob sie nicht zur Seite, sondern blieb stehen und ließ sich ihren Antrag wiederholen, als hätte er schlecht gehört. Da hatte er unerwartet eine Freundin gefunden, die sich ihm für eine kleine Vergütung ganz zur Verfügung stellte; sie wird sich bemühen, liebenswürdig zu sein und alles zu vermeiden, was ihm mißfallen könnte; sie wird, wenn er ihr ein Zeichen des Einverständnisses gibt, ihren Arm in seinen legen, mit einem zarten Zutrauen und einem leichten Zögern, wie es nur entsteht, wenn Vertraute nach unverschuldeter Trennung sich zum ersten Male wiedersehn; und wenn er ihr ein Mehrfaches ihres gewöhnlichen Preises verspricht und gleich auf den Tisch legt, damit sie nicht ans Geld zu denken braucht, sondern sich in dem sorglos gefälligen Zustand findet, den ein gutes Geschäft hinterläßt, so wird sich zeigen, daß auch die reine Gleichgültigkeit an dem Vorzug aller reinen Empfindungen teilhat, frei von persönlicher Anmaßung zu sein und ohne die eitle Verwirrung der Gefühlsansprüche zu dienen: halb ernst, halb scherzhaft ging ihm das durch den Kopf, und er brachte es nicht über sich, die kleine Person ganz zu enttäuschen, die darauf wartete, daß er in das Geschäft einschlage. Er bemerkte, daß es ihn nach ihrer Zuneigung verlange; aber ungeschickt genug, statt einfach ein paar Worte in ihrer Berufssprache mit ihr zu wechseln, griff er in die Tasche, drückte eine Geldnote, die ungefähr dem Werte eines Besuchs entsprach, dem Mädchen in die Hand und ging weiter. Einen Augenblick lang hatte er dabei die Hand, die sich merkwürdigerweise überrascht wehrte, fest in der seinen gehalten und ein einziges, freundliches Wort gesagt. Dann ließ er die Erbötige in der Überzeugung zurück, daß sie nun zu ihren Kolleginnen gehen werde, die nebenan im Dunkel wisperten, und das Geld zeigen und schließlich durch irgendeinen Spott dem Luft machen werde, worüber sie sich keine rechte Meinung bilden konnte.
    Diese Begegnung blieb noch eine Weile lebendig, als wäre sie ein zartes Idyll von einer Minute Dauer gewesen. Er täuschte sich nicht über die rohe Armut seiner flüchtigen Freundin. Aber wenn er sich vorstellte, wie sie den Blick ein wenig verrenken und einen jener kleinen, ungeschickt gemachten Seufzer ausstoßen würde, die sie im rechten Augenblick anzubringen gelernt hat, so strömte diese tief gemeine, völlig unbegabte Schauspielerei für einen ausgemachten Betrag doch auch etwas Rührendes aus, er wußte nicht warum; vielleicht deshalb, weil es die menschliche Komödie auf der Schmiere gespielt war. Und schon während Ulrich mit dem Mädchen sprach, hatte ihn eine sehr naheliegende Gedankenverbindung an Moosbrugger erinnert. Moosbrugger, der krankhafte Komödiant, der Prostituiertenjäger und -vertilger, der durch jene Unglücksnacht genau so gegangen war wie er heute. Als die

Weitere Kostenlose Bücher