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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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solle. In einem anderen Zustande würde Ulrich wahrscheinlich einen Schutzmann geholt oder wenigstens die Lage erkundet haben, ehe er sich zu etwas entschloß, aber er wollte allein mit diesem Erlebnis sein und holte nicht einmal die Pistole hervor, die er seit jener Nacht, wo er von Strolchen niedergeschlagen worden, manchmal bei sich trug. Er wollte –: das wußte er nicht, es sollte sich zeigen!
    Aber als er die Haustür aufstieß, zeigte sich, daß der mit so unklaren Gefühlen erwartete Einbrecher bloß Clarisse war.

123

Die Umkehrung
    VIELLEICHT H ATTE bei Ulrichs Verhalten von Anfang an die Überzeugung mitgespielt, es werde sich alles harmlos aufklären, jene Ungeneigtheit, an das Schlimmste zu glauben, mit der man immer in Gefahren geht; aber als ihm in der Halle unerwartet sein alter Diener entgegentrat, hätte er ihn beinahe niedergeschlagen. Weil er es glücklicherweise im letzten Augenblick unterließ, erfuhr er durch ihn, daß ein Telegramm gekommen sei, das Clarisse in Empfang genommen habe, und daß die gnädige junge Frau schon vor etwa einer Stunde gekommen sei, gerade als der Alte weggehen wollte, und sich nicht habe abweisen lassen, so daß er es vorgezogen habe, auch für seine Person im Haus zu bleiben und für heute auf seinen Urlaub zu verzichten, denn der gnädige Herr möge ihm die Bemerkung verzeihen, aber die junge Dame habe auf ihn einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht.
    Als Ulrich ihm gedankt hatte und seine Wohnung betrat, lag Clarisse auf einem Diwan, etwas zur Seite gedreht und die Beine an den Leib gezogen; ihre taillenlos schlanke Figur, der knabenartig frisierte Kopf mit dem langen lieblichen Gesicht, das ihm, auf den Arm gestützt, entgegensah, als er die Tür öffnete, waren überaus verführerisch. Er erzählte ihr, daß er sie für einen Einbrecher gehalten habe. Clarisse bekam Augen, die wie das Schnellfeuer eines Brownings waren. »Vielleicht bin ich einer!« erwiderte sie. »Der alte Schlaukopf, der dich bedient, hat mich um keinen Preis bleiben lassen wollen; ich habe ihn schlafen geschickt, aber ich weiß, daß er sich unten irgendwo versteckt hat! Schön hast du's hier!« Dabei reichte sie ihm die Depesche, ohne aufzustehen. »Ich habe einmal sehen wollen, wie du nach Hause kommst, wenn du glaubst, daß du allein bist« fuhr sie fort. »Walter ist in einem Konzert. Er kommt erst nach Mitternacht zurück. Ich habe ihm aber nicht gesagt, daß ich zu dir gehe.«
    Ulrich riß die Depesche auf und las sie, während er nur mit halbem Ohr hörte, was Clarisse sagte; er wurde überraschend bleich und las ungläubig noch einmal den sonderbaren Wortlaut. Er hatte schon seit einiger Zeit, obgleich er verschiedene Anfragen seines Vaters wegen der Parallelaktion und der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu beantworten verabsäumt hatte, kein Mahnschreiben erhalten, ohne daß es ihm aufgefallen wäre; nun meldete ihm das Telegramm in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers. Sie hatten wenig Neigung füreinander besessen, ja es war Ulrich der Gedanke an seinen Vater beinahe immer unangenehm gewesen, trotzdem dachte er, während er den schnurrig-unheimlichen Text ein zweites Mal las: »Ich bin nun ganz allein auf der Welt!« Es war nicht so recht der wörtliche und schlecht zu dem nun beendeten Verhältnis passende Sinn dieser Worte, was er meinte; eher fühlte er sich verwundert aufsteigen, als wäre ein Ankertau zerrissen, oder fühlte einen sich nun ganz herstellenden Zustand der Landesfremdheit in einer Welt, der er durch seinen Vater noch verbunden gewesen war.
    »Mein Vater ist gestorben!« sagte er zu Clarisse und hob mit einiger unwillkürlicher Feierlichkeit die Hand mit der Depesche.
    »Ach!« antwortete Clarisse. »Ich gratuliere!« Und nach einer kleinen, besinnlichen Pause fügte sie hinzu: »Da wirst du jetzt wohl sehr reich?« Sie sah sich neugierig um.
    »Ich glaube nicht, daß er mehr als wohlhabend war« erwiderte Ulrich ablehnend. »Ich lebte hier über seine Verhältnisse.«
    Clarisse bestätigte die Zurechtweisung mit einem ganz kleinen Lächeln, einer Art Kratzfuß von Lächeln; viele ihrer ausdrücklichen Bewegungen waren so hastig und auf kleinstem Raum übertrieben wie die Verbeugung eines Knaben, der einer gesellschaftlichen Verpflichtung seinen Erziehungstribut

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