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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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blutig feierliches Glück faßte die Seele an. Vielleicht war dies zu viel; Ulrich stellte sich plötzlich vor, mit wieviel Selbstgenuß und innerer »Regie« Arnheim jetzt an seiner Stelle hier gehen würde. Er hatte keine Freude mehr an seinem Schatten und Hall, und die geisternde Musik in den Mauern war erloschen. Er wußte, daß er Arnheims Antrag nicht annehmen werde; aber er kam sich jetzt nur noch wie ein durch die Gallerie des Lebens irrendes Gespenst vor, das voll Bestürzung den Rahmen nicht finden kann, in den es hineinschlüpfen soll, und war ordentlich froh, als sein Weg bald in eine weniger drückende und großartige Gegend gelangte.
    Breite Straßen und Plätze öffneten sich dunkel, und gewöhnliche Häuser, mit Lichtstockwerken friedlich bestirnt, hatten weiter nichts Zauberhaftes an sich. Ins Freie tretend, nahm er von diesem Frieden Witterung, und ohne daß er recht wußte warum, erinnerte er sich an einige Kinderbildnisse, die er vor einiger Zeit wiedergesehen hatte: sie zeigten ihn in Gesellschaft seiner früh verstorbenen Mutter, und mit Fremdheit hatte er auf ihnen einen kleinen Knaben erblickt, den eine altmodisch gekleidete, schöne Frau glücklich anlächelte. Die äußerst eindringliche Vorstellung eines braven, liebevollen, klugen kleinen Jungen, die man sich von ihm gemacht hatte; Hoffnungen, die ganz und gar noch nicht seine eigenen waren; ungewisse Erwartungen einer ehrenvollen erwünschten Zukunft, die wie die offenen Flügel eines goldenen Netzes nach ihm langten –: obgleich alles das seinerzeit unsichtbar gewesen war, hatte es sich nach Jahrzehnten doch sehr deutlich den alten Platten ablesen lassen, und mitten aus dieser sichtbaren Unsichtbarkeit, die so leicht hätte Wirklichkeit werden können, blickte ihm sein weiches, leeres Kindergesicht mit dem etwas verstörten Ausdruck des Stillhaltens entgegen. Er hatte keine Spur von Neigung für diesen Knaben gefühlt, und wenn er auch auf seine schöne Mutter einigen Stolz setzte, hatte das Ganze doch vor allem den Eindruck auf ihn gemacht, einem großen Schreck entronnen zu sein.
    Wer diesen Eindruck erlebt hat, daß ihm seine Person, in einen gewesenen Augenblick der Selbstzufriedenheit gehüllt, aus alten Bildern entgegenblickte, als wäre ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen, wird das Gefühl verstehen, mit dem er sich die Frage vorlegte, wie dieses Bindemittel denn eigentlich beschaffen sei, daß es bei anderen nicht versage. Er befand sich nun in einer der Baumanlagen, die als ein unterbrochener Ring der Linie folgen, wo früher die Wälle waren, und hätte sie mit wenigen Schritten durchqueren können, aber der große Streif Himmels, der sich der Länge nach über den Bäumen dehnte, verlockte ihn, abzubiegen und seiner Richtung zu folgen, wobei er sich dem überaus privat wirkenden Lichterkranz, der die winterlichen Anlagen, die er durchschritt, himmlisch zurückgezogen umschwebte, immerfort zu nähern schien, ohne ihm näher zu kommen. »Es ist eine Art perspektivischer Verkürzung des Verstandes,« sagte er sich »was diesen allabendlichen Frieden zustandebringt, der in seiner Erstreckung von einem zum andern Tag das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens ergibt. Denn der Menge nach ist es ja beiweitem nicht die Hauptvoraussetzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. Diese Leistung ist es also,« sagte sich Ulrich »die ich nicht in wünschenswerter Weise vollbringe.«
    Er blieb einen Augenblick vor einer breiten Pfütze stehen, die seinen Weg sperrte. Vielleicht war es diese Lacke zu seinen Füßen, und vielleicht waren es auch die besenkahlen Bäume zu seinen Seiten, was in diesem Augenblick plötzlich Straße und Dorf hervorzauberte und die zwischen Erfüllung und Vergeblichkeit liegende Eintönigkeit der Seele in ihm weckte, die dem Land eigentümlich ist und ihn seit jener ersten »Reise-Flucht« in seiner Jugend mehr als

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