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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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es ist etwas im Gange, und ich bin auch gar nicht im Zweifel, was das ist: das Zeitalter der großen Individualitäten geht zu Ende!« Er beugte sich vor. »Ich kann nicht ausnehmen, welches Gesicht Sie dazu machen; ich habe schlechtes Büchsenlicht!« Er lachte ein wenig. »Sie haben eine Generalinventur des Geistes gefordert: Glauben Sie daran? Glauben Sie denn, daß das Leben vom Geist regulierbar ist?! Sie haben natürlich nein gesagt: Aber ich glaube Ihnen nicht, denn Sie sind ein Mensch, der den Teufel umarmen würde, weil er der Mann ohnegleichen ist!«
    »Woraus ist das?« fragte Ulrich.
    »Aus der unterdrückten Vorrede zu den Räubern.«
    »Natürlich aus der unterdrückten,« dachte Ulrich »wie denn aus einer gewöhnlichen!«
    »Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhängt« zitierte Arnheim aus seinem umfassenden Gedächtnis weiter. Er fühlte, daß er wieder Herr der Lage sei und Ulrich, aus welchen Gründen immer, nachgegeben habe; es war nicht mehr feindliche Härte neben ihm, man brauchte auch nicht mehr von dem Antrag zu sprechen, das war in einer glücklichen Weise vorbeigegangen; aber so wie ein Ringkämpfer das Ermatten des Gegners errät und da sein ganzes Gewicht einsetzt, fühlte er das Bedürfnis, die volle Schwere jenes Antrags nachwirken zu lassen, und fuhr fort: »Ich glaube, daß Sie mich jetzt besser verstehen werden als anfangs. Ich gestehe Ihnen also offen, daß ich mich zuweilen allein fühle. Wenn die Leute ‚neu‘ sind, denken sie zu wirtschaftlich; wenn die Wirtschaftsfamilien aber die zweite oder dritte Generation bilden, verlieren sie die Phantasie. Sie bringen dann nur noch einwandfreie Verwalter hervor, Schlösser, Jagden, Offiziere und adelige Schwiegersöhne. Ich kenne diese Leute in der ganzen Welt; es sind kluge und feine Menschen darunter, aber sie sind nicht fähig, auch nur einen Gedanken hervorzubringen, der mit diesem letzten Unruhig-, Unabhängig- und vielleicht Unglücklichsein zusammenhängt, das ich durch das Schillerzitat gekennzeichnet habe.«
    »Ich kann leider das Gespräch nicht fortsetzen« erwiderte Ulrich. »Frau Tuzzi dürfte den Wiedereintritt der Ruhe in einem befreundeten Haus abwarten, aber ich muß fort. Sie trauen mir also zu, daß ich, ohne von Wirtschaft etwas zu verstehen, diese Unruhe besitze, die ihr so förderlich ist, indem sie ihr das allzu Wirtschaftliche nimmt?« Er hatte Licht gemacht, um sich zu verabschieden, und wartete auf Antwort. Arnheim legte ihm in majestätischer Freundlichkeit den Arm auf die Schulter, eine Gebärde, die sich nun schon bewährt zu haben schien, und erwiderte: »Verzeihen Sie mir, wenn ich vielleicht etwas viel gesagt habe, es war eine Stimmung der Einsamkeit! Die Wirtschaft kommt zur Macht, und was fangen wir mit der Macht an, fragt man sich manchmal! Nehmen Sie es mir nicht übel!«
    »Aber im Gegenteil!« versicherte Ulrich. »Ich habe mir vorgenommen, Ihren Vorschlag ernst zu überlegen!« – Er sagte das schnell, und man konnte diese Hast als Erregung deuten. Darum blieb Arnheim, der noch auf Diotima wartete, etwas verdutzt zurück und fürchtete, daß es gar nicht so einfach sein werde, Ulrich auf eine ehrenvolle Weise von diesem Vorschlag wieder abzubringen.

122

Heimweg
    ULRICH GING zu Fuß nach Hause. Es war eine schöne, aber dunkle Nacht. Die Häuser bildeten hoch und geschlossen den sonderbaren, oben offenen Raum Straße, über dem in der Luft irgend etwas, Finsternis, Wind oder Wolken, vor sich ging. Der Weg war so menschenleer, als ob die frühere Unruhe nun einen tiefen Schlummer hinterlassen hätte. Wenn Ulrich einem Fußgänger begegnete, so kam der Schall der Schritte durch lange Zeit allein auf ihn zu wie eine gewichtige Anmeldung. Man konnte das Gefühl von Geschehen haben in dieser Nacht wie in einem Theater. Man fühlte, daß man eine Erscheinung in dieser Welt war; etwas, das größer wirkt, als es ist; das hallt und, wenn es an beleuchteten Flächen vorbeikommt, seinen Schatten zur Begleitung hat wie einen mächtig zuckenden Narren, der sich aufrichtet und im nächsten Augenblick wieder demütig an die Fersen kriecht. »Wie glücklich kann man sein!« dachte er.
    Er durchschritt einen Torbogen in einem etwa zehn Schritte lang neben der Straße laufenden steinernen Gang, der von ihr durch dicke Gewölbepfeiler getrennt war; Dunkelheit sprang aus Ecken, Überfall und Totschlag fackelten in dem halberleuchteten Durchlaß: heftiges, altertümlich und

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