Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
einmal zu einer Wiederholung gelockt hatte. »Es wird alles so einfach!« fühlte er. »Die Gefühle schläfern; die Gedanken lösen sich voneinander wie Wolken nach bösem Wetter, und mit einemmal bricht ein leerer schöner Himmel aus der Seele! Nun mag angesichts dieses Himmels eine Kuh mitten am Weg strahlen: es ist eine Eindringlichkeit des Geschehens, als ob sonst nichts auf der Welt wäre! Eine Wolke mag, hindurchwandernd, das gleiche über der ganzen Gegend tun: das Gras wird dunkel, und eine Weile später blitzt das Gras ringsum vor Nässe, sonst ist nichts geschehn, aber das ist eine Fahrt wie von einer Küste eines Meeres zur andern! Ein alter Mann verliert seinen letzten Zahn: und dieses kleine Ereignis bedeutet einen Einschnitt im Leben aller seiner Nachbarn, woran sie ihre Erinnerungen knüpfen können! Und so singen die Vögel alle Abende um das Dorf und immer in der gleichen Weise, wenn hinter der sinkenden Sonne die Stille kommt, aber es ist jedesmal ein neues Ereignis, als wäre die Welt noch keine sieben Tage alt! Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen,« dachte er »man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.«
Aber indem er das dachte, wußte er auch, daß es die Macht des Menschen tausendfach ausdehnt, und wenn es selbst im Einzelnen ihn zehnfach verdünnt, ihn im ganzen noch hundertfach vergrößert, und ein Rücktausch kam für ihn nicht ernsthaft in Frage. Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: »Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!« Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten »Faden der Erzählung«, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann »als«, »ehe« und »nachdem«! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste »perspektivische Verkürzung des Verstandes« nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig »weil« und »damit« hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.
Als er sich mit dieser Erkenntnis wieder in Bewegung setzte, erinnerte er sich allerdings, daß Goethe in einer Kunstbetrachtung geschrieben hat: »Der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen!« Er zuckte respektvoll die Achseln. »Höchstens so, wie ein Schauspieler das Bewußtsein für Kulisse und Schminke verliert und zu handeln meint, darf der Mensch heute den unsicheren Hintergrund von Lehre vergessen, von dem alle seine Tätigkeiten abhängen!« dachte er. Aber dieser Gedanke an Goethe war wohl ein wenig mit dem an Arnheim vermischt gewesen, der jenen
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